Wertschätzung – der Garten der Dankbarkeit.

Wir alle kennen den Ratschlag: „Sei dankbar.“ Dankbarkeitsjournale füllen Regale, und Experten preisen die Vorteile, drei Dinge am Tag aufzuschreiben, für die wir dankbar sind. Das ist eine wunderbare Praxis – keine Frage. Sie hilft uns, uns von der Jagd nach dem Nächsten zu lösen und einen Moment innezuhalten, um das Gute in unserem Leben zu würdigen.

Doch was, wenn es eine noch tiefere, nuanciertere und kraftvollere Ebene gibt? Eine, die über das bloße „Dankbar-Sein“ hinausgeht und uns lehrt, das Leben nicht nur anzuerkennen, sondern es wirklich zu umarmen?

Diese Ebene ist die Wertschätzung.

Während Dankbarkeit oft ein passiver Akt ist – ein innerliches „Danke“ für das, was wir haben –, ist Wertschätzung ein aktiver, sinnlicher und teilnehmender Zustand. Der Psychologe Dr. Steven Stosny bringt es auf den Punkt: „Dankbarkeit ist gut. Wertschätzung ist besser.“

Morgensonne - Wertschätzung

Der feine, aber entscheidende Unterschied

Stellen Sie sich einen sonnigen Morgen vor. Sie sind dankbar für die Sonne, die durchs Fenster scheint. Das ist ein schönes Gefühl.

Wertschätzung hingegen ist, wenn Sie einen Moment verweilen, um die Wärme auf Ihrer Haut zu spüren. Sie bemerken das Muster, das das Licht auf den Boden wirft, und wie es den Staub in der Luft tanzen lässt. Sie atmen tief ein und spüren, wie diese Wärme Sie von innen heraus mit Energie füllt. Sie sind nicht nur dankbar für die Sonne; Sie sind in eine tiefe, sinnliche Verbindung mit ihr getreten. Sie schätzen den Wert des Moments.

Dankbarkeit ist das Was. Wertschätzung ist das Wie und Warum.

  • Dankbarkeit ist die Liste der Dinge (Gesundheit, Familie, ein Dach über dem Kopf).
  • Wertschätzung ist die bewusste Erfahrung der Freude, die diese Dinge in Ihnen auslösen – das Lachen Ihres Kindes, die beruhigende Stärke Ihres Körpers, das Gefühl der Sicherheit in den eigenen vier Wänden.

Warum Wertschätzung so transformativ wirkt

  1. Sie verankert uns im Hier und Jetzt: Dankbarkeit kann man auch für Vergangenes oder Zukünftiges empfinden („Ich bin dankbar für den Urlaub letztes Jahr“ oder „Ich bin dankbar für die Beförderung“). Wertschätzung geschieht immer im gegenwärtigen Moment. Sie zwingt uns, unsere Sinne zu öffnen und die Welt direkt vor unserer Nase zu erleben. Sie ist eine Form der Achtsamkeit.
  2. Sie vertreibt die innere Leere: Im „Zeitalter des Anspruchsdenkens“ glauben wir oft, dass das nächste Ding – das neue Auto, der höhere Status – uns endlich erfüllen wird. Diese Haltung führt zu chronischer Unzufriedenheit. Wertschätzung kehrt dies um: Sie findet Fülle und Reichtum in dem, was bereits da ist. Anstatt nach mehr zu gieren, entdecken Sie die Tiefe in dem, was Sie bereits besitzen.
  3. Sie vertieft unsere Beziehungen: Sie können für Ihren Partner dankbar sein. Das ist schön. Aber was verändert sich, wenn Sie anfangen, ihn oder sie aktiv wertzuschätzen? Wenn Sie nicht nur „danke“ sagen, sondern die Art und Weise bewundern, wie er zuhört, die Güte in seinen Augen oder die Stärke, die er in schwierigen Zeiten zeigt? Plötzlich sehen Sie die Person nicht als selbstverständlich an, sondern feiern ihre einzigartige Essenz. Das nährt die Liebe auf einer ganz anderen Ebene.
  4. Sie macht uns widerstandsfähiger: In schwierigen Zeiten fällt Dankbarkeit oft schwer. Wo soll man auch dankbar sein, wenn alles schiefzulaufen scheint? Aber selbst im Auge des Sturms können wir Momente der Wertschätzung finden: Die beruhigende Wärme einer Tasse Tee. Die tröstende Hand eines Freundes. Die Schönheit eines Regentropfens auf der Fensterscheibe. Diese kleinen Inseln der Wertschätzung können uns Halt geben, wenn alles andere wackelt.
Wertschätzung - Regentag

Wie wir die Kunst der Wertschätzung im Alltag kultivieren

Die gute Nachricht ist: Wertschätzung ist eine Fähigkeit, die wir wie einen Muskel trainieren können.

  1. Engagieren Sie Ihre Sinne: Gehen Sie über die gedankliche Liste hinaus. Was hören, riechen, schmecken, fühlen Sie? Schätzen Sie die Cremigkeit des Joghurts, den Duft von nassem Asphalt nach einem Sommerregen, die Weichheit Ihrer Lieblingsdecke.
  2. Stellen Sie „Warum“-Fragen: Anstatt nur „Ich bin dankbar für meinen Job“ zu denken, fragen Sie sich: „Warum schätze ich meinen Job? Weil er mir erlaubt, kreativ zu sein? Weil ich dort ein tolles Team habe, das ich bewundere?“ Graben Sie tiefer.
  3. Suchen Sie die verborgene Schönheit im Gewöhnlichen: Nehmen Sie sich heute einen ganz alltäglichen Gegenstand – einen Stift, eine Tasse, einen Baum auf Ihrem Arbeitsweg – und versuchen Sie, mindestens drei Details zu entdecken, die Sie vorher nie bemerkt haben. Sie werden überrascht sein, welches Universum sich in den scheinbar banalsten Dingen verbirgt.
  4. Wandeln Sie Neid in Bewunderung: Wenn Sie neidisch auf jemanden sind, der etwas hat, das Sie wollen, halten Sie inne. Anstatt in Mangeldenken zu verfallen, üben Sie sich in Wertschätzung. „Ich schätze den Stil dieser Person wirklich“ oder „Ich bewundere ihren Erfolg, das ist inspirierend.“ So verwandeln Sie ein negatives Gefühl in eine Quelle der Motivation und Verbindung.

Fazit: Ein Leben in Fülle führen

Dankbarkeit ist der Anfang. Sie ist die Tür, die wir öffnen, um aus der Dunkelheit der Unzufriedenheit herauszutreten. Wertschätzung aber ist der Garten, den wir dann betreten – ein Raum, den wir mit allen Sinnen erkunden, in dem wir verweilen und der uns mit seiner Schönheit und seinem Reichtum nährt.

Begnügen Sie sich also nicht damit, nur dankbar zu sein. Gehen Sie einen Schritt weiter. Schätzen Sie das Leben wert. Tauchen Sie ein in die sinnliche Erfahrung des Moments. Denn ein wertgeschätztes Leben ist kein perfektes Leben, aber es ist ein tief gelebtes, reiches und wahrhaft erfülltes Leben. Es ist die Kunst, nicht nur am Leben zu sein, sondern das Leben wirklich zu lieben.

Posttraumatisches Wachstum: gebrochen, doch auch gewachsen

Wenn wir an ein schweres Trauma denken – einen Unfall, eine schwere Krankheit, den Verlust eines geliebten Menschen oder Gewalterfahrungen – steht meist das Leid im Vordergrund. Zu Recht. Die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist weithin bekannt und beschreibt die tiefen Narben, die solche Ereignisse hinterlassen können. Doch es gibt eine andere, weniger bekannte Seite der Medaille: das Posttraumatische Wachstum (PTW).

Posttraumatisches Wachstum nach Waldbrand

Posttraumatisches Wachstum ist nicht einfach nur Resilienz, also die Fähigkeit, sich von einem Schicksalsschlag zu erholen und wieder auf den vorherigen psychischen Stand zurückzukehren. Posttraumatisches Wachstum beschreibt etwas Phänomenaleres: die Erfahrung, dass Menschen durch den Kampf mit der Krise persönlich gestärkt hervorgehen und sich positiv verändern. Sie sind nicht nur heil, sondern in bestimmten Aspekten sogar „mehr“ als zuvor.

Was ist Posttraumatisches Wachstum?

Das Konzept wurde in den 1990er Jahren von den Psychologen Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun entwickelt. Sie fanden heraus, dass viele Trauma-Überlebende berichteten, dass ihr Leben eine tiefgreifende positive Wende genommen habe. Dieses Wachstum zeigt sich typischerweise in fünf zentralen Bereichen:

  1. Wertschätzung des Lebens: Die kleinen, alltäglichen Freuden rücken in den Fokus. Das Leben wird intensiver und bewusster gelebt. Ein Sonnenstrahl, ein Lachen, ein Gespräch – all das wird nicht mehr als selbstverständlich angesehen.
  2. Neue Möglichkeiten: Wo alte Lebensziele oder Karrierewege vielleicht unerreichbar geworden sind, entdecken Menschen neue Wege und Leidenschaften. Sie beginnen vielleicht ein neues Hobby, engagieren sich in einer Selbsthilfegruppe oder starten ein völlig neues Projekt.
  3. Stärkere zwischenmenschliche Beziehungen: Die Krise offenbart oft, wer wirklich für einen da ist. Die Beziehungen zu diesen Menschen vertiefen sich, werden authentischer und mitfühlender. Gleichzeitig wird die Trennschärfe für toxische Beziehungen größer.
  4. Persönliche Stärke: Der Umstand, das schlimmste Ereignis des eigenen Lebens überstanden zu haben, schenkt ein unerschütterliches Vertrauen in die eigene Widerstandsfähigkeit. „Wenn ich das geschafft habe, schaffe ich alles“, ist ein häufiger Gedanke.
  5. Spirituelle oder existenzielle Veränderung: Viele Menschen beginnen, über die „großen Fragen“ des Lebens nachzudenken. Ihr Wertesystem, ihr Weltbild und ihre Einstellung zum Sinn des Lebens können sich fundamental wandeln.

Wie entsteht dieses Wachstum? Der Weg durch das Erdbeben

Posttraumatisches Wachstum geschieht nicht trotz des Traumas, sondern durch die Auseinandersetzung mit ihm. Das traumatische Ereignis wirft das fundamentale Gerüst unseres Lebens über den Haufen – unsere Grundüberzeugungen, wie „Die Welt ist gerecht“ oder „Mir kann nichts passieren“. Dieses innere Chaos zwingt uns dazu, unser Weltbild Stück für Stück neu zusammenzusetzen. In diesem schmerzhaften Prozess des Infragestellens und Neubauens entstehen die neuen, oft stärkeren und authentischeren Perspektiven.

Wichtig ist: Dieser Prozess ist kein linearer Aufstieg. Er ist geprägt von Rückschlägen, intensivem Leid und Phasen der Verzweiflung. Das Wachstum ist das Ergebnis eines ringenden, oft quälenden Kampfes.

Missverständnisse und was Posttraumatisches Wachstum nicht ist

Um das Konzept richtig zu verstehen, ist es entscheidend zu wissen, was PTW nicht ist:

  • Es ist keine Verharmlosung des Traumas. Das Leid ist real und schrecklich. PTW bedeutet nicht, dass man für das Trauma dankbar sein sollte. Es beschreibt die Stärke, die im Umgang damit entstehen kann.
  • Es ist nicht dasselbe wie Resilienz. Resiliente Menschen „federn zurück“. Beim PTW geht es um eine Veränderung, eine Transformation, die über den ursprünglichen Zustand hinausgeht.
  • Es ist kein universelles Ziel. Nicht jeder, der ein Trauma erlebt, wird automatisch wachsen. Es ist einer von vielen möglichen Ausgängen. Es ist völlig in Ordnung, „einfach nur“ zu überleben und zu heilen.

Wie kann man Posttraumatisches Wachstum fördern?

Wachstum lässt sich nicht erzwingen, aber der Boden kann dafür bereitet werden. Entscheidend ist die Verarbeitung des Erlebten. Das geschieht oft durch:

  • Das Erzählen der eigenen Geschichte: Im sicheren Rahmen, z.B. in der Therapie, mit engen Freunden oder in Selbsthilfegruppen, kann das Durcharbeiten der Ereignisse gelingen.
  • Emotionale Regulation: Zu lernen, mit den überwältigenden Gefühlen von Angst, Wut und Trauer umzugehen, ist eine Grundvoraussetzung.
  • Neubewertung der Situation (Reframing): Langsam eine neue Sichtweise auf das Geschehene zu entwickeln und ihm vielleicht sogar einen Sinn zu geben, ist ein zentraler Schritt.
  • Akzeptanz: Irgendwann geht es darum, das Unveränderbare zu akzeptieren, ohne es gutzuheißen.

Fazit

Die Idee des Posttraumatischen Wachstums bietet einen hoffnungsvollen Blick auf die menschliche Fähigkeit zur Transformation. Sie erinnert uns daran, dass Menschen nicht nur zerbrechlich, sondern auch unglaublich anpassungsfähig und stark sind. Sie zeigt, dass selbst in der tiefsten Dunkelheit ein Samen für neues Leben keimen kann. Indem wir von diesen Geschichten des Wachstums erfahren, können wir vielleicht auch unseren eigenen Umgang mit Krisen mit etwas mehr Geduld, Mitgefühl und der stillen Hoffnung auf mögliches Gedeihen am anderen Ende betrachten.

Übungen zur Förderung von Posttraumatischem Wachstum

Die folgenden Übungen können den Prozess des Posttraumatischen Wachstums anregen und unterstützen. Sie zielen darauf ab, die fünf Kernbereiche gezielt zu fördern.

Wichtiger Hinweis: Diese Übungen sind unterstützende Werkzeuge zur Reflexion und ersetzen keine Therapie. Wenn Sie sich durch die Erinnerungen überwältigt fühlen, brechen Sie die Übung bitte ab und suchen Sie professionelle Hilfe.


1. Übung: Der „Anker der Dankbarkeit“

Fördert die Wertschätzung des Lebens

  • So geht’s: Nehmen Sie sich jeden Abend etwa 5 Minuten Zeit. Notieren Sie drei konkrete Dinge, für die Sie an diesem Tag dankbar waren. Diese müssen nicht bedeutend sein; der Geschmack einer Tasse Tee, ein freundlicher Gruß oder ein Moment der Stille können genügen.
  • Warum es hilft: Diese Praxis trainiert das Gehirn, aktiv nach positiven Erfahrungen zu suchen und verankert Sie im gegenwärtigen Moment. Sie wirkt der Tendenz entgegen, dass negative Gedanken und Erinnerungen den Alltag überschatten.

2. Übung: Das „Wer bin ich jetzt?“-Journal

Fördert das Bewusstsein für die persönliche Stärke

  • So geht’s: Beantworten Sie die folgenden Fragen schriftlich für sich selbst:
    • „Was habe ich in der letzten Krise über meine eigene Widerstandskraft und Stärke gelernt?“
    • „An welche schwierige Situation, die ich bereits bewältigt habe, kann ich mich erinnern? Was hat mir damals geholfen, durchzuhalten?“
    • „Wie würde ich den Satz ‚Ich bin jemand, der…‘ heute, nach meinen Erfahrungen, vervollständigen?“
  • Warum es hilft: Diese Reflexion unterstützt Sie dabei, ein neues, resilientes Selbstverständnis aufzubauen. Sie hilft, sich selbst als Person zu sehen, die Herausforderungen bewältigen kann, und nicht primär als Opfer der Umstände.

3. Übung: Die „Beziehungslandkarte“

Fördert die Intensivierung zwischenmenschlicher Beziehungen

  • So geht’s: Zeichnen Sie einen großen Kreis in die Mitte eines Blattes und schreiben Sie „Ich“ hinein. Zeichnen Sie weitere Kreise um den Mittelpunkt und tragen Sie die Namen von Menschen aus Ihrem Leben ein. Je näher Ihnen jemand emotional steht, desto näher platzieren Sie den Namen an der Mitte.
    • Reflexion: Betrachten Sie die fertige Landkarte. Wer steht sehr nah? Wer hat sich in der Krise als wahrhaft unterstützend erwiesen? Gibt es Beziehungen, die Sie vielleicht bewusst pflegen oder auch distanzierter gestalten möchten?
  • Warum es hilft: Diese Visualisierung schafft Klarheit über Ihr soziales Unterstützungsnetzwerk. Sie ermutigt Sie, Ihre Energie gezielt in die Beziehungen zu investieren, die Ihnen Kraft und Halt geben.

4. Übung: „Neue Kapitel“ Brainstorming

Fördert die Wahrnehmung neuer Möglichkeiten

  • So geht’s: Schreiben Sie den folgenden Satzanfang auf: „Auch wenn ich [X] nicht mehr tun/kann/habe, könnte ich stattdessen…“ (Ersetzen Sie [X] mit einem konkreten Verlust oder einer Einschränkung). Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf und notieren Sie alle Ideen, die Ihnen in den Sinn kommen – ohne sie in diesem Moment auf ihre Machbarkeit zu prüfen.
  • Warum es hilft: Diese Übung hilft, den Fokus vom erlittenen Verlust zu lösen und auf potenzielle neue Wege, Interessen oder Lebensentwürfe zu lenken. Sie öffnet den Geist für unerwartete Möglichkeiten.

5. Übung: Der „Sinn-Finder“

Fördert spirituelle und existenzielle Veränderungen

  • So geht’s: Stellen Sie sich eine der folgenden Fragen und schreiben Sie frei dazu, ohne zu zensieren:
    • „Wie hat diese Erfahrung meinen Blick auf das Leben und was wirklich wichtig ist, verändert?“
    • „Welches Wissen, welche Einsicht oder welche Fähigkeit besitze ich heute, die ich ohne diese Erfahrung wahrscheinlich nicht hätte?“
    • „Wie könnte ich mein Erlebtes nutzen, um vielleicht anderen Menschen in einer ähnlichen Situation Hilfe oder Trost zu spenden?“
  • Warum es hilft: Die aktive und bewusste Suche nach Sinn ist ein zentraler Motor des posttraumatischen Wachstums. Dieser Prozess hilft dabei, die traumatische Erfahrung in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren und ihr einen Platz zu geben, der über den bloßen Schmerz hinausgeht.

Empfehlung zur Durchführung:

  • Starten Sie klein. Wählen Sie zunächst eine oder zwei Übungen aus, die Sie am meisten ansprechen.
  • Seien Sie geduldig mit sich. Posttraumatisches Wachstum ist ein Prozess, der Zeit und Ruhe braucht. Erzwingen Sie nichts.
  • Schaffen Sie einen sicheren Rahmen. Es gibt keine „richtigen“ oder „falschen“ Antworten. Der Wert liegt im ehrlichen und mitfühlenden Reflexionsprozess mit sich selbst.

Literatur:

Mangelsdorf, J. Posttraumatisches Wachstum. Z Psychodrama Soziom 19, 21–33 (2020). https://doi.org/10.1007/s11620-020-00525-5

Schreiben im Herbst. Den Wandel umarmen.

Wenn das Licht weicher fällt und die Welt sich in Gold und Purpur kleidet, hält die Natur den Atem an. Dieser herbstliche Übergang ist mehr als ein meteorologisches Ereignis; er ist eine archetypische Einladung an die Seele. In der sichtbaren Vergänglichkeit der Natur spiegelt sich unsere eigene innere Landschaft aus Ernte und Abschied, Reife und Verwandlung. Das Schreiben wird in dieser Zeit zur heiligen Handlung – ein Ritual, um die Energie des Wandels bewusst zu durchleben und das Loslassen nicht als Verlust, sondern als schöpferischen Grundakt des Daseins zu begreifen.

Wald im Herbst

Die Philosophie des Fallenlassens: Eine Übung in gelassener Hingabe

Der Herbst lehrt uns eine tiefe, stoische Weisheit: Die Kunst des Lebens liege nicht im Festhalten, sondern im rechten Zeitpunkt des Loslassens. Wie die Bäume ihre Blätter nicht als Niederlage, sondern als notwendige Voraussetzung für die Überwinterung betrachten, so dürfen auch wir uns von überholten Narrativen, erstarrten Identitäten und den unnützen Blättern der Vergangenheit befreien. In diesem Sinne ist das Schreiben eine Exkarnation – ein Fleischwerden der inneren Prozesse im äußeren Wort. Jeder Satz wird zu einer Brücke zwischen dem, was war, und dem, was im Keim bereits wartet; eine literarische Bestätigung von Rilkes Diktum: „Der Wald wandelt sich, wir wandeln uns mit.“

Ein Ritual der Metamorphose: Vom Ich zum Text

Um diesen Übergang nicht nur zu erleben, sondern zu gestalten, kann ein schöpferisches Ritual zum Anker werden. Es ist eine bewusste Unterbrechung des Alltags, eine Einübung in die Achtsamkeit.

  1. Wähle einen Ort der Kontemplation. Ein Lehnstuhl am Fenster, eine Bank im Park – ein Ort, der dir erlaubt, Zeuge des Wandels zu werden, ohne ihm Einhalt gebieten zu müssen.
  2. Versinke in der Sinnlichkeit der Jahreszeit. Nimm nicht nur visuell wahr, sondern lausche dem Rascheln, rieche die modrige Erde, spüre die Kühle auf der Haut. Werde ganz Ohr, ganz Nase, ganz Haut.
  3. Atme die Klarheit ein. Der Herbst reinigt die Luft. Atme tief ein und lade diese kristalline Klarheit in dich ein. Mit jedem Ausatmen darf etwas von der inneren Trübung, der mentalen Feuchtigkeit entweichen.
  4. Stelle die Sanduhr der Stille. Widme diesem Akt 20 unantastbare Minuten. In dieser Zeit ist kein Plan, keine Zensur, keine Revision erlaubt. Es geht um den Fluss, nicht um die Form.
  5. Erlaube dem Unbewussten, sich zu äußern. Lasse die Worte kommen wie fallende Blätter – manche leuchtend und ganz, andere welk und fragmentarisch. Vertraue dem Rhythmus deines Atems und der untergründigen Strömung deiner Gedanken.
Herbst fallende Blätter

Zwölf Tore zur Tiefe: Schreibimpulse für die Übergangszeit

Diese Fragen sind keine Aufgaben, sondern Schlüssel. Sie sollen Tore zu jenen inneren Räumen öffnen, die im Lärm des Sommers oft ungehört bleiben.

  1. Welchem längst erzählten Kapitel meiner Geschichte darf ich in diesem Herbst erlauben, zu enden?
  2. Welche Früchte sind in diesem Jahr gereift, die ich nun ernten und kostend würdigen kann?
  3. Was ist der feine Unterschied zwischen Dankbarkeit für das Gewesene und der Trauer des Abschieds – und wo berühren sie sich in mir?
  4. Wie verändert sich die Qualität meiner inneren Stimme, wenn die äußere Welt leiser und dunkler wird?
  5. Ist Loslassen für mich ein Akt der Kapitulation oder ein Akt der Befreiung?
  6. Welcher neue, bisher unbetretene Raum tut sich in mir auf, wenn ein altes Muster, eine alte Sorge, geht?
  7. Wenn der Herbst ein weiser Begleiter wäre – welchen einen, entscheidenden Rat würde er mir flüstern?
  8. Welcher Samen in mir verlangt danach, jetzt zu ruhen, um im kommenden Frühling kraftvoller zu keimen?
  9. Wie kann ich mich der Dunkelheit nicht nur erwehren, sondern sie als Nährboden für Introspektion und Träume willkommen heißen?
  10. Wenn mein gegenwärtiger Seelenzustand eine Herbstfarbe wäre – welche wäre es? Ist sie das glühende Rot der Reife oder das zarte Gelb der Vergänglichkeit?
  11. Beschreibe einen herbstlichen Moment in der Natur, der für dich eine unerwartete, tröstliche Wahrheit offenbarte.
  12. Welches kleine, beständige Licht brennt in meinem Inneren, dessen Schein nur umso tröstlicher wirkt, je tiefer die Dunkelheit um mich wird?

Die Balance der Gegensätze: Wo Abschied und Neubeginn sich berühren

Der Herbst ist die Jahreszeit der Ambivalenz. Er hält Fülle und Leere, strahlendes Licht und tiefen Schatten in einem atemberaubenden Gleichgewicht. Im Schreiben können wir diese Polaritäten nicht nur erforschen, sondern sie aushalten und in ihre Ganzheit integrieren. Jede Zeile wird zu einem herbstlichen Blatt unserer Seele: Wir betrachten es, ehren seine Schönheit und lassen es dann ziehen. In diesem schöpferischen Akt des Zulassens und Fallenlassens geschieht die eigentliche Magie: Wir schaffen Leere. Und, wie die Philosophie und die Physik lehren, hasst das Universum ein Vakuum.

So ist das Schreiben im Herbst kein passiver Rückzug, sondern ein aktiver, leiser Neubeginn. Indem wir Worte für das Vergehende finden, bereiten wir den Boden für das Kommende vor. Wir sortieren die innere Bibliothek unserer Seele, verabschieden uns von überholten Bänden und schaffen Regalplatz für neue, noch ungeschriebene Werke. Der Herbst wird so zur Zeit des Erwachens inmitten des Loslassens – eine Einübung in die Kunst, den Wandel nicht nur zu erdulden, sondern als Quelle der Erneuerung zu lieben.

Ubuntu. Das Vermächtnis Südafrikas an die Welt.

Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen Raum, in dem die Luft würzig duftet nach geröstetem Mais und feurigem Chakalaka. Das Licht ist warm, Lachen dringt an Ihr Ohr und Sie werden mit einem offenen Blick willkommen geheißen, noch bevor ein Wort gewechselt wurde. Dieses Gefühl der unmittelbaren Zugehörigkeit, dieser tiefe Respekt für Ihr bloßes Dasein – das ist mehr als nur Gastfreundschaft. Es ist ein Hauch von Ubuntu, einer Philosophie, die tief in den Böden Südafrikas verwurzelt ist.

Ubuntu. Das Vermächtnis Südafrikas.

Doch Ubuntu ist mehr als ein jahrhundertealtes Weisheitsgut der Völker des südlichen Afrikas. Es ist das moralische Fundament, das Südafrika nach dem Ende der Apartheid half, sich wieder aufzurichten. In einer Zeit, die von Rassenhass, systematischer Entmenschlichung und tiefsten Gräben geprägt war, bot Ubuntu den Kompass für einen nahezu unmöglich scheinenden Weg: den der Versöhnung. Inspiriert von dieser zeitlosen Kraft, die Mungi Ngomane in ihrem Buch „I Am Because You Are“ für unsere moderne Welt übersetzt hat, ist Ubuntu eine Antwort auf die Frage, wie eine zerrissene Gesellschaft wieder heilen kann.

Sein Kern ist ein einfacher, doch im Angesicht des Unrechts der Apartheid revolutionärer Satz: „Umuntu ngumuntu ngabantu“ – „Ich bin, weil wir sind.“ Diese Philosophie lehrt, dass unsere Menschlichkeit untrennbar mit der unserer Mitmenschen verflochten ist. Sie wurde zur geistigen Grundlage der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Nicht Rache, sondern die Anerkennung der gemeinsamen, verletzten Menschlichkeit sollte das Land einen. Es war die mutige Entscheidung, zu sagen: Dein Schmerz ist auch mein Schmerz, und unsere Zukunft kann nur eine gemeinsame sein.

Die Kunst, Mensch zu sein – damals und heute

Ubuntu ist keine abstrakte Theorie; es ist eine täglich gelebte Praxis der Großzügigkeit, des Mitgefühls und der gegenseitigen Verantwortung. Ngomane beschreibt es als ein Netzwerk, in dem die Gemeinschaft gestärkt wird, indem jedes ihrer Mitglieder gesehen, gehört und in seiner Würde bestätigt wird – ein machtvolles Gegenmodell zu jeder Form der Ausgrenzung.

Ein Dialog der Werte: Ubuntu und Europa

Auf den ersten Blick mag diese Philosophie exotisch wirken. Doch wenn man genauer hinschaut, entdeckt man berührende Gemeinsamkeiten mit unseren eigenen europäischen Werten.

Stellen Sie sich ein Gespräch vor:

  • Ubuntu sagt: „Die Gemeinschaft ist der Fels, auf dem das Individuum wächst.“
  • Europa erwidert: „Aber die Würde des Einzelnen ist unantastbar.“
    Ubuntu würde lächelnd nicken und ergänzen: „Gerade deshalb! Denn die Apartheid hat gezeigt, was geschieht, wenn wir diese Würde leugnen. Deine individuelle Stärke in respektvoller Gemeinschaft zu entfalten, ist die höchste Form ihrer Bestätigung.“

Oder:

  • Ubuntu fragt: „Wie repariert man eine zerrüttete Nation?“
  • Europa denkt an Solidarität und Versöhnung nach den Weltkriegen: „Durch Annäherung und gemeinsame Werte.“
    Und Ubuntu flüstert: „Siehst du? Ob zwischen Nachbarn oder Nationen – das Prinzip ist das gleiche. Unser gemeinsames Menschsein ist die ultimative Union, die jede Mauer überwinden kann.“

Ein Geschmack von Verbundenheit

Wie ließe sich diese Philosophie besser erfassen als durch die Sinne? Stellen Sie sich vor, Sie kosten einen Löffel würziges Chakalaka, das Geschmacksexplosionen auf der Zunge entfacht. Oder Sie brechen ein Stück weiches, dampfendes Brot, das man sich traditionell mit den Händen teilt. Bei jedem Bissen teilt man nicht nur die Speise, sondern auch einen Moment der Verbundenheit. Das Essen wird zur Metapher: Es nährt nicht nur den Körper, sondern auch die Beziehungen zwischen den Menschen – genau das, was eine Gesellschaft nach Jahren der Entzweiung am dringendsten braucht.

Ubuntu - Essen teilen

Ubuntu ist eine Einladung. Eine Einladung, die Welt mit den Augen einer Weisheit zu sehen, die Hass mit Menschlichkeit beantwortet. Es ist die tiefe, beruhigende Gewissheit, dass niemand von uns je wirklich allein ist und dass unsere größte Stärke in unserer Fähigkeit zur Verbundenheit liegt. Denn ich bin, weil wir sind. Und weil Sie sind, bin auch ich.

Das Buch „I Am Because You Are“ von Mungi Ngomane ist im Verlag Penguin Random House erschienen und bietet eine wunderbare Vertiefung in die Welt des Ubuntu:

Mungi Ngomane, Enkelin des südafrikanischen Friedensnobelpreisträgers Desmond Tutu, übersetzt in ihrem Buch die uralte afrikanische Philosophie Ubuntu in eine praktische Anleitung für ein modernes, erfülltes Leben. Das Buch ist weniger ein theoretisches Werk als vielmehr eine liebevolle Einladung, eine Lebensweise zu entdecken, die auf gegenseitigem Respekt und Verbundenheit basiert.

Die zentrale Botschaft: Unsere eigene Menschlichkeit („Ubuntu“) wird durch die Anerkennung der Menschlichkeit in anderen bestätigt und gestärkt. Ein Mensch mit Ubuntu ist offen, zugänglich, freundlich und großzügig. Er oder sie weiß, dass man als Teil eines größeren Ganzen stärker ist und dass das Wohl des Einzelnen mit dem Wohl der Gemeinschaft verknüpft ist.

Die wichtigsten Säulen, die Ngomane herausarbeitet, sind:

  1. Gastfreundschaft & Willkommenskultur: Jeden Menschen mit Würde und Respekt zu behandeln, als wäre er ein willkommener Gast.
  2. Mitgefühl & Vergebung: Die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen und, im Sinne der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, auch den Weg der Vergebung zu gehen.
  3. Gemeinschaft & Zusammenhalt: Die Bedeutung von Gemeinschaft, gegenseitiger Unterstützung und dem Feiern des Zusammenhalts.
  4. Würde & Respekt: Die unantastbare Würde jedes Menschen als Fundament aller Interaktionen.

Das Buch zeigt, wie diese Prinzipien nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen transformieren, sondern auch zu mehr persönlichem Frieden und Zufriedenheit führen.

Ausgewählte Übungen aus dem Buch

Die Übungen von Ngomane sind konkret, alltagstauglich und zielen darauf ab, eine Haltung der Offenheit und Verbundenheit zu kultivieren. Hier sind einige zentrale Ansätze:

1. Die tägliche Begrüßungsübung: „Sawubona“

  • Was ist es? „Sawubona“ ist ein isiZulu-Gruß, der wörtlich „Ich sehe dich“ bedeutet. Es ist eine Anerkennung der gesamten Existenz der anderen Person.
  • Die Übung: Wenn Sie heute jemanden treffen, seien Sie es der Kollege, der Barista oder der Postbote, grüßen Sie ihn bewusst. Schauen Sie der Person in die Augen und sagen Sie innerlich oder äußerlich „Sawubona“. Nehmen Sie sich einen Moment, um sie wirklich wahrzunehmen – jenseits ihrer Funktion oder Rolle.
  • Der Effekt: Diese kleine Praxis unterbricht die Routine der Unaufmerksamkeit und verwandt eine alltägliche Begegnung in einen Moment der menschlichen Verbindung.

2. Die Kunst, Gemeinschaft zu stiften

  • Was ist es? Ubuntu betont, dass wir aktiv Gemeinschaft aufbauen müssen.
  • Die Übung: Nehmen Sie sich vor, in der nächsten Woche eine kleine, unkomplizierte Handlung der Gemeinschaftsbildung zu vollbringen. Das kann sein:
    • Eine Kollegin auf einen Kaffee einzuladen, mit der Sie sonst nur geschäftlich sprechen.
    • Den Nachbarn, den Sie nur vom Sehen kennen, bewusst anzusprechen und nach seinem Befinden zu fragen.
    • Eine kleine, gemeinsame Mahlzeit zu teilen – sei es Kuchen im Büro oder ein Picknick im Park.
  • Der Effekt: Sie brechen soziale Blasen auf und weben aktiv am Netz der Verbundenheit in Ihrer unmittelbaren Umgebung.

3. Vergebung als Prozess

  • Was ist es? Ngomane beschreibt Vergebung nicht als einmaligen Akt, sondern als einen Prozess, der mit kleinen Schritten beginnt.
  • Die Übung: Denken Sie an einen kleinen, nicht tief verwurzelten Groll, den Sie gegen jemanden hegen. Anstatt ihn festzuhalten, üben Sie einen ersten Schritt der Vergebung:
    • Perspektivwechsel: Versuchen Sie, die Situation aus der Sicht der anderen Person zu sehen. Was könnten ihre Gründe oder Nöte gewesen sein?
    • Das Loslassen- Ritual: Schreiben Sie den Groll auf einen Zettel und verbrennen oder zerreißen Sie ihn symbolisch. Es geht nicht darum, das Geschehene zu billigen, sondern sich von der lastenden Emotion zu befreien.
  • Der Effekt: Sie befreien sich selbst von der emotionalen Bürde und machen einen ersten Schritt hin zu mehr innerem Frieden.

4. Die Würde des anderen erkennen

  • Was ist es? Jeder Mensch hat eine inhärente Würde.
  • Die Übung: Wählen Sie einen Tag in der Woche, an dem Sie bewusst die Würde der Menschen in Ihrem Umfeld anerkennen. Besonders bei denen, die oft übersehen werden: die Reinigungskraft, der Busfahrer, die Kassiererin. Sagen Sie „Danke“ und nennen Sie dabei den Grund: „Danke für Ihre immer freundliche Art“ oder „Danke, dass Sie unseren Arbeitsplatz so sauber halten.“
  • Der Effekt: Sie bestätigen nicht nur die Würde des anderen, sondern trainieren auch Ihren eigenen Blick für das Gute und die Beiträge, die jeder Einzelne leistet.

Diese Übungen sind der lebendige Atem von Ubuntu. Sie sind die kleinen, kostbaren Samen, aus denen eine Haltung wachsen kann, die unser eigenes Leben und das unserer Gemeinschaft reicher und menschlicher macht – ganz im Sinne von: Ich bin, weil wir sind.

Vom Lesen und Schreiben. Geschichten, die die Welt tragen.

Es gibt eine stille, unscheinbare Geste, die fast jedes Kind kennt: den Finger unter den Worten entlangziehen, um sich nicht zu verlieren. In dieser Bewegung liegt mehr als eine bloße Lesetechnik. Sie ist ein Symbol dafür, dass Lesen Zeit braucht, Aufmerksamkeit verlangt, ein Eintauchen, das nicht nebenbei geschehen kann.

In einer Welt, die immer schneller wird, in der Nachrichtenfetzen, Clips und Bilder im Sekundentakt über unsere Bildschirme laufen, wirkt diese Art des Lesens beinahe altmodisch. Doch gerade in dieser Langsamkeit liegt die Kraft des Geschichtenerzählens.

Lesen als Widerstand gegen die Beschleunigung

Geschichten sind keine Ware, die man hastig konsumiert. Sie sind Räume, die man betritt. Wer liest, tritt über eine unsichtbare Schwelle: hinein in Gärten, Städte, Welten, die von Autorinnen und Autoren über Monate, manchmal Jahre, erschaffen wurden. Ein schneller Blick auf die Oberfläche verfehlt ihr Inneres. Erst wer Satz für Satz verweilt, spürt, was zwischen den Zeilen liegt – die Pausen, das Ungesagte, die zarten Schattierungen.

So wie der „Selbstsüchtige Riese“ von Oscar Wilde, der sein Paradies verschloss und doch am Ende erkannte, dass Wärme und Leben nur dort entstehen, wo geteilt wird. Eine Geschichte, die uns bei jedem Wiederlesen neu begegnet, weil wir selbst uns verändern und andere Fragen an sie stellen.

Geschichten am Lagerfeuer - Lesen

Geschichten als älteste Technologie

Bevor es Bücher, Schrift oder gar digitale Netzwerke gab, saßen Menschen im Kreis um ein Feuer. Sie erzählten, sangen, deuteten mit Gesten. Geschichten waren die erste Form von Erinnerung, die erste Technologie des Verbindens. Sie erklärten, woher man kam, wohin man gehen könnte, und sie hielten das Wissen wach: vom richtigen Schlag mit dem Hammer bis hin zum Weg ins nächste Tal.

Lesen und Schreiben sind Fortsetzungen dieses Feuers. Jede Geschichte ist eine Flamme, die weitergegeben wird, manchmal auf Papier, manchmal mündlich, manchmal über einen Bildschirm – und doch bleibt ihr Kern gleich: Sie stiftet Verbindung.

Das Erbe der Stimmen, die fast verstummt wären

Für viele Generationen war Lesen ein Privileg, das nicht jedem zugestanden wurde. Ganze Bevölkerungsgruppen wurden systematisch ausgeschlossen, weil die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben Macht bedeutete – Macht über das eigene Leben, Macht über die Weitergabe von Geschichte.

Und doch haben Menschen, selbst ohne Schrift, ihre Geschichten bewahrt: in Liedern, Predigten, Quilts, in Humor und Widerstand. Das Erzählen wurde zum Akt des Überlebens. Heute, wenn wir ein Buch aufschlagen, treten wir in diesen Kreis ein, der nie zerbrochen ist. Wir lesen nicht nur für uns, sondern auch in Erinnerung an jene, die es nicht durften.

Schreiben als Antwort

Wer schreibt, antwortet auf diese Tradition. Schreiben heißt, neue Gärten zu öffnen, Mauern einzureißen und andere einzuladen. Es bedeutet, den eigenen Erfahrungen Raum zu geben, damit sie von anderen aufgenommen, gespiegelt, weitergetragen werden können. Schreiben schafft Sichtbarkeit und bestätigt, dass jedes Leben erzählenswert ist.

Eine Einladung zur Langsamkeit

Vielleicht liegt die Aufgabe unserer Zeit nicht darin, immer schneller zu lesen, zu scrollen, zu konsumieren, sondern vielmehr darin, die Hand wieder auszubreiten, den Finger unter die Worte zu legen und sich führen zu lassen.

Denn jedes langsame Lesen ist ein stiller Protest gegen das Vergessen, ein Lauschen auf Stimmen, die älter sind als wir, und ein Erinnern daran, dass wir Teil eines ungebrochenen Kreises sind.

Geschichten machen uns weniger allein. Sie erinnern uns daran, dass jede Mauer einstürzen kann – und dass in den Gärten der Sprache Platz für uns alle ist.

Lesenswertes

Barthes, R. (1987). Die Lust am Text. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
→ Ein klassischer Essay des französischen Literaturtheoretikers, der das Lesen als lustvollen, sinnlichen Akt beschreibt – und so den Gegensatz zur bloßen Informationsaufnahme betont.

Benjamin, W. (1977). Der Erzähler: Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
→ Benjamins berühmter Text über das Erzählen als Form von Erfahrung, Tradition und Erinnerung – ein Schlüsseltext zum Verständnis der narrativen Kultur.

Böll, H. (1985). Über das Schreiben. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
→ Sammlung von Essays und Reden, in denen Heinrich Böll über die Verantwortung von Literatur und die gesellschaftliche Rolle des Schreibens reflektiert.

Eco, U. (1994). Die unendliche Liste. München: Hanser.
→ Essayistische Reflexion über Sammeln, Aufzählen und Erzählen – ein spielerischer Zugang zum literarischen Umgang mit Sprache und Ordnung.

Handke, P. (1966). Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
→ Literarisch-philosophischer Essay über Sehen, Wahrnehmen und Schreiben – ein Plädoyer für Genauigkeit und Langsamkeit.

Iser, W. (1976). Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. München: Wilhelm Fink.
→ Ein zentraler literaturwissenschaftlicher Text, der erklärt, wie Leser Texte „vollenden“ und Sinn aktiv mitgestalten.

Manguel, A. (1998). Eine Geschichte des Lesens. Frankfurt am Main: S. Fischer.
→ Ein groß angelegter kulturgeschichtlicher Essay, der Lesen von der Antike bis in die Gegenwart verfolgt – sehr zugänglich und erzählerisch.

Musil, R. (1992). Literatur und Kritik: Essays und Reden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
→ Reflexionen eines großen Autors über Literatur, Kritik und die Verantwortung des Schreibens.

Wolf, M. (2007). Proust und der Tintenfisch: Die Geschichte und Wissenschaft des Lesens. München: dtv.
→ Eine Mischung aus Neurowissenschaft, Literaturgeschichte und persönlicher Erzählung – über das, was im Gehirn beim Lesen geschieht.

Zweig, S. (1925). Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers. Stockholm: Bermann-Fischer.
→ Autobiografischer Klassiker, der zugleich ein Buch über das Verschwinden einer Kultur des Lesens und Schreibens im Umbruch der Moderne ist.

Eine kleine Kulturgeschichte der Unhöflichkeit

Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, wo all die guten Manieren geblieben sind? Die Zeit, in der man sich zur Begrüßung die Hand reichte und nicht das Smartphone? Sie sind nicht allein. Studien zeigen, dass sich fast die Hälfte von uns zunehmend von einem rauen, unhöflichen Ton in unserem Alltag umgeben fühlt. Von Fluchen in der Schlange an der Kasse über rücksichtslose Smartphone-Nutzung bis hin zur legendären Parkplatz-Schlacht vor dem Supermarkt – die Fundorte für Flegelhaftigkeit sind vielfältig.

Doch ist die Welt wirklich so viel unfreundlicher geworden? Und toben die schlimmsten Rudel-Kämpfe tatsächlich im Internet? Eine neue Studie wirft einen überraschenden Blick auf das, was wir für modernen Umgangsstil halten.

Höflichkeit beim Warten

Das „Wie-du-mir-so-ich-dir“-Prinzip der Unhöflichkeit

Zuerst die gute Nachricht: Nicht jeder, der uns anfährt, ist ein geborener Menschenfeind. Oft steckt schlicht ein schlechter Tag dahinter. Die wirklich interessanten Fälle jedoch folgen einem klaren Muster, dem „Prinzip der Unhöflichkeits-Reziprozität“ – oder einfacher: dem archetypischen „Wie-du-mir-so-ich-dir“.

Stellen Sie sich vor, Sie bitten höflich die Person hinter Ihnen in der Schlange, kurz Ihre vergessene Milch holen zu dürfen. Die Antwort ist ein unwirsches „Sie sind nicht der einzige, der es eilig hat.“ Der erste Impuls? Vermutlich nicht, höflich zu lächeln. Sondern innerlich (oder äußerlich) zu kontern: „Na, auch nicht gerade die fröhlichste Forelle im Teich, was?“.

Genau diesen Teufelskreis haben Forscher um Jonathan Culpeper von der Lancaster University näher untersucht. Ihr Ergebnis: Ob online oder offline, Unhöflichkeit funktioniert wie ein Bumerang – sie kommt oft zurück.

Online-Trolle vs. Parkplatz-Rambos: Wer ist unhöflicher?

Jetzt kommt das überraschende Ergebnis: Entgegen der landläufigen Meinung ist das Internet vielleicht gar nicht der unhöflicheste Ort der Welt. Zugegeben, in den Tiefen der Kommentarspalten wimmelt es von Gemeinheiten. Doch genau hier greift eine unsichtbare Hand regulierend ein: die Community. Moderatoren löschen Beiträge, andere User mischen sich ein und de-eskalieren. Die Anonymität schützt zwar den Unhöflichkeitstäter, aber die Öffentlichkeit zügelt ihn auch.

Ganz anders der klassische Streit im echten Leben, sagen die Forscher. Nehmen wir Situation im Supermarkt von oben. Hier stehen sich zwei Menschen direkt gegenüber. Eine Beleidigung wird nicht gelöscht, sie prallt ungebremst auf ihr Ziel. Und was passiert? Die berühmte „Rechnung“ wird gezogen. Man fühlt sich beleidigt und möchte diese verbale Schuld sofort zurückzahlen – am besten mit Zinsen. Ein Schneeball-System der Unfreundlichkeit beginnt zu rollen, bis jede Spur von Höflichkeit unter ihm begraben liegt.

Die Studie zeigt: Während online die Gemeinheit oft in einem großen Wut-Ausbruch explodiert und dann erstickt wird, schaukelt sie sich offline langsam, Schritt für Schritt, hoch. Jede Antwort ist ein bisschen bissiger, jede Reaktion eine Spur patziger.

Höflichkeit im Supermarkt

Also, was tun? Den Kreislauf durchbrechen!

Die ernüchternde Erkenntnis der Forschung ist: Es gibt sie, die chronisch Unhöflichen. Menschen, die laut älterer Studien „amorale Heißsporne“ sind, die keine Kritik annehmen und gerne im Rampenlicht stehen. Sie liefern die Vorlage für Reality-TV und politische Shoutings.

Doch die wichtigere und tröstlichere Erkenntnis ist: Wir sind ihnen nicht hilflos ausgeliefert. Der größte Hebel liegt bei uns selbst. Das „Wie-du-mir-so-ich-dir“-Prinzip funktioniert nämlich auch umgekehrt.

Der nächste Rempler im Gedränge? Ein freundliches „Passt schon!“ statt eines genervten Seufzers. Eine patzige Mail? Ein sachlicher, höflicher Satz als Antwort. Sie brechen den Kreislauf. Sie lassen die verbale Rechnung nicht weiterwachsen und entziehen ihr die Grundlage.

Die Welt wird vielleicht nicht über Nacht eine freundlichere werden. Aber Sie können Ihre eigene Welt ein Stück weit höflicher gestalten. Und wer weiß? Vielleicht stecken Sie ja sogar den einen oder anderen Parkplatz-Rambo mit Ihrer Gelassenheit an. Einfach mal ausprobieren – die Studie gibt Ihnen recht.

Literatur:

  • Culpeper, J., Tantucci, V. & Field, E. (2025). Unhöflichkeit im Internet. Zeitschrift für Pragmatik, 242242, 216–236.
  • Park, A., Ickes, W., & Robinson, R. L. (2014). Mehr f. %ing rudeness: Zuverlässige Persönlichkeitsvorhersagen für verbale Grobheit. Zeitschrift für Aggression, Konflikt- und Friedensforschung, 6 (1), 26–43.

Schamanisches Trommeln – innere Reisen im uralten Rhythmus

Schamanisches Trommeln begleitet menschliche Rituale seit Jahrtausenden. Was aus anthropologischer oder spiritueller Sicht faszinierend ist, erweist sich auch aus psychologischer Perspektive als höchst relevant. Es geht nicht nur um Kultur oder Esoterik, sondern um die unmittelbare Wirkung von Rhythmus auf die menschliche Psyche.

Die Trommel als Tor zu anderen Bewusstseinszuständen

Im Kern zielt das schamanische Trommeln darauf ab, einen Trance-Zustand zu induzieren – sowohl beim Spielenden als auch beim Zuhörenden. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist dieser Effekt gut erklärbar.

Der gleichmäßige, monotone Rhythmus, oft im Frequenzbereich von 4 bis 7 Schlägen pro Sekunde (Theta-Wellen-Bereich), wirkt auf das Gehirn wie ein akustischer Driver. Er kann die Gehirnwellenfrequenz synchronisieren, einen Prozess, der als Frequenzfolgereaktion bekannt ist. Dieser Zustand ist charakteristisch für tiefe Entspannung, Meditation und den Übergang zwischen Wachsein und Schlaf – ein Tor zum Unbewussten.

Schamanisches Trommeln

Psychologische Funktionen

1. Regulation von Emotionen und Stress

Der tiefe, resonante Klang der Trommel wirkt beruhigend auf das limbische System, das emotionale Zentrum des Gehirns. Die rhythmische Stimulation kann die Produktion von Stresshormonen reduzieren und stattdessen die Ausschüttung von Endorphinen und Serotonin fördern. Dies erklärt das häufig berichtete Gefühl der inneren Ruhe und Gelassenheit, das sich beim Trommeln einstellt.

2. Förderung von Achtsamkeit und Präsenz

Das Fokussieren auf den repetitiven Rhythmus zwingt den Geist, im Hier und Jetzt zu verweilen. Ähnlich wie bei einer Meditationspraxis unterbricht es den Strom der Alltagsgedanken („monkey mind“) und fördert einen Zustand der vertieften Konzentration und Achtsamkeit.

3. Zugang zum Unbewussten und symbolische Verarbeitung

Der trommelinduzierte Trancezustand umgeht teilweise die kognitive Kontrolle des präfrontalen Cortex. Dies kann den Zugang zu verdrängten Emotionen, intuitiven Einsichten und kreativen Ideen erleichtern. In diesem Zustand werden oft innere Bilder, Geschichten und Symbole wachgerufen, die aus tiefenpsychologischer Sicht (nach C. G. Jung) als Ausdruck des kollektiven Unbewussten oder archetypischer Muster verstanden werden können. Die „Reise“, die der Schamane antritt, kann somit als eine innere Reise in die eigene Psyche interpretiert werden.

4. Schaffung von Sinn und Kohärenz

Rituale allgemein – und das Trommeln als ritualisierte Praxis – geben dem Erleben eine Struktur und einen Sinn. In einer modernen Welt, die oft als fragmentiert und sinnentleert erlebt wird, kann eine solche Praxis helfen, ein Gefühl der Verbundenheit und Kohärenz wiederherzustellen – Verbundenheit mit sich selbst, mit anderen (bei gemeinsamen Trommeln) und mit etwas Größerem.

5. Katharsis und emotionaler Ausdruck

Das Trommeln bietet einen kanalisierten, körperlichen Weg für emotionalen Ausdruck. Wut, Freude, Trauer und Ekstase können durch den Rhythmus ausgedrückt und transformiert werden, was einen kathartischen Effekt haben kann.

Moderne therapeutische Anwendungen

Die Erkenntnisse über die Wirksamkeit des Trommelns haben Eingang in verschiedene Therapieformen gefunden. In der Musiktherapie wird Trommeln gezielt eingesetzt, um:

  • Nonverbale Kommunikation zu ermöglichen
  • Emotionen zu regulieren
  • Soziale Interaktion in Gruppen zu fördern
  • Trauma-Symptome zu lindern (z.B. durch Steuerung der Atmung und Beruhigung des Nervensystems)

Fazit: Die uralte Kraft des Rhythmus

Aus psychologischer Sicht ist schamanisches Trommeln weit mehr als ein folkloristisches Relikt. Es ist eine kraftvolle, praxisorientierte Methode, um Bewusstseinszustände gezielt zu verändern und psychische Prozesse zu anzuregen. Die Wirkung lässt sich nicht allein auf Spiritualität reduzieren, sondern findet eine fundierte Erklärung in Neurowissenschaften und Tiefenpsychologie. Der rhythmische Puls der Trommel scheint einen direkten Draht zu unseren innersten emotionalen und psychischen Landschaften zu haben – eine Erkenntnis, die die Schamanen alter Kulturen schon lange vor der modernen Wissenschaft intuitiv nutzten und die heute auch in der modernen Therapie wiederentdeckt wird.

Literatur

  1. Díaz, J. L. (2010). Neuroanthropologie der Trance: Ein biokultureller Ansatz. In E. Fürst (Hrsg.), Trance, Besessenheit und Ekstase (S. 89–112). facultas.wuv.
  2. Fach, T. (2018). Die heilende Kraft des Rhythmus: Musiktherapie und Neurobiologie. Springer.
  3. Maurer, R. L. (2016). Rhythmus und Trance: Die psychologische Wirkung des schamanischen Trommelns. Zeitschrift für Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 27(3), 123–130.
  4. Ritter, M. (2015). Tranceformationen: Zur Psychophysiologie schamanischer Trance. In A. Weber & L. Vaitl (Hrsg.), Veränderte Bewusstseinszustände: Grundlagen – Techniken – Phänomenologie (S. 145–168). Schattauer.
  5. Tucek, G. (2019). Handbuch der Musiktherapie: Theoretische Grundlagen, Praxis, Forschung. Springer.
  6. Vaitl, D. (Hrsg.). (2012). Veränderte Bewusstseinszustände: Grundlagen – Techniken – Phänomenologie (2. Aufl.). Schattauer.

Single Tasking – Lass dich nicht verrückt machen!

Willkommen im Hamsterrad! Eine Gesellschaft, die Multitasking feiert, hat uns weisgemacht, dass wir nur etwas wert sind, wenn wir fünf Dinge gleichzeitig tun. E-Mails checken während dem Frühstückskaffee, nebenher den Einkauf planen und dabei noch die Kinder bespaßen? Das ist kein Lifestyle, das ist Wahnsinn auf Rezept.

Multitasking ist der größte Betrug unserer Zeit. Es verspricht Effizienz, aber liefert nur Hektik, Halbgares und das ständige Gefühl, nie wirklich da zu sein. Zeit, den Stecker zu ziehen. Die bewusste Rebellion dagegen heißt: Single Tasking.

Single Tasking

Single Tasking: Die elegante Art, „F*ck you“ zu sagen

Single Tasking ist die radikale Entscheidung, nur eine Sache zu tun. Und zwar so, als ob sie gerade das Wichtigste auf der Welt wäre. Weil sie das ja auch ist. Es ist ein Akt der Selbstverteidigung. Eine klare Ansage an Körper und Geist: „Alles andere kann warten. Jetzt bin ich hier.“ Diese Art der Fokussierung ist nicht nur verdammt effektiv, sie ist auch ein echter Luxus. Sie entschleunigt, schenkt Klarheit und erlaubt uns, unser eigenes Leben wieder zu leben, statt nur durchzurennen.

Warum Multitasking uns kaputtmacht (und nicht cool ist)

Unser Gehirn ist keine Workaholic-Maschine, es ist ein elegant denkender Künstler. Es kann keine zwei komplexen Aufgaben parallel erledigen, es kann nur hektisch zwischen ihnen hin- und herspringen wie ein überdopeter Zirkus-Hund. Dieses geistige Pingpong macht uns nervös, treibt den Stresspegel in die Höhe und führt dazu, dass wir nur noch halbe Sachen machen. Im echten Leben bedeutet das: Du bist beim Abendessen mit deinen Liebsten, aber dein Kopf sortiert noch die Mails von heute Mittag. Wie schrecklich!

Multitasking ist ein Betrugsversuch. Der Begriff stammt aus der IT-Welt, wo Prozessoren vortäuschen, mehrere Dinge parallel zu tun. Unser Gehirn kann das nicht. Es kann nicht malochen und telefonieren. Es kann nur ruckelnd zwischen Aufgaben hin- und herschalten.
Dieses ständige „Task-Switching“ ist eine absolute Energie- und Zeitverschwendung. Die Fakten sind erbarmungslos und zeigen, dass Multitasking:

  • dich bis zu 40 % unproduktiver macht,
  • die Fehlerquote in die Höhe treibt,
  • deine Stresshormone explodieren lässt,
  • dein Gehirn schneller ausbrennen lässt.

Kurzum: Wer Multitasking feiert, feiert seine eigene Ineffizienz.

Single Tasking im Alltag – Mini-Rebellionen für mehr Souveränität

1. Hier und Jetzt
Leg das Handy weg. Wirklich. JETZT. Iss. Schmecke. Rieche. Spüre, was da eigentlich auf deinem Teller liegt. Aus einer lästigen Kalorienaufnahme wird so wieder ein echter Genuss. Revolutionär, oder?

2. Gespräche, die kein Background-Programm sind
Wenn du mit jemandem redest, dann TU DAS AUCH. Das Handy ist tabu. Dein Gegenüber verdient deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Das ist nicht nur höflich, sondern mittlerweile eine rare und wertvolle Gabe.

3. Spaziergang statt Social Walk
Geh raus. Ohne Kopfhörer. Ohne Podcast. Ohne Telefonat. Sieh dich um. Hör den Vögeln zu. Spür den Boden unter deinen Füßen. Dein Gehirn wird dir danken, dass du es mal für 20 Minuten aus der Datenflut entlassen hast.

4. Putzen als Power-Move
Auch Abwasch kann Meditation sein. Konzentrier dich einfach nur auf den Schaum, das warme Wasser, das glänzende Glas. Anstatt dich zu ärgern, kommst du runter. Aus einer lästigen Pflicht wird eine kleine Auszeit.

5. Mach mal Pause. Eine echte.
Eine Tasse Kaffee oder Tee trinken, ohne nebenher auf einen Bildschirm zu starren. Einfach nur dasitzen und trinken. Das ist keine Zeitverschwendung, das ist ein kleines Selbstfürsorge-Ritual, das dich für die nächste Runde stärkt.

Die Psychologie dahinter: Achtsamkeit ist die neue Rebellion

Single Tasking ist eine Haltung. Es ist die dreiste Weigerung, das Tempo der anderen mitzugehen. Es ist die Erlaubnis, langsam, präsent und unproduktiv im herkömmlichen Sinne zu sein. Es ist die Einsicht, dass deine Aufmerksamkeit dein wertvollstes Gut ist – und dass du sie beschützt.

Das Ergebnis? Weniger Stress, mehr innere Ruhe und das gute Gefühl, die Kontrolle über deine eigene Zeit und dein Leben zurückzuerobern.

Fazit: Gönn es dir.

Single Tasking ist die größte Form von Selbstfürsorge in einer Welt, die dich ausbrennen will. Es schenkt dir echte Präsenz – bei der Arbeit, beim Essen, in Beziehungen. Es ist der schnellste Weg, dein Leben nicht nur schneller, sondern vielmehr besser, bewusster und erfüllter zu gestalten. Manchmal ist die radikalste und frechste Entscheidung, die du treffen kannst, einfach nur eine Sache zu tun.

Kräuterbüschel, Frauendreißiger und die Psychologie des Reifens

Am 15. August, Mariä Himmelfahrt, beginnt in vielen Regionen der sogenannte Frauendreißiger – eine etwa dreißig tägige Zeit, in der nach alter Überlieferung die Kräuter ihre stärkste Heilkraft entfalten. Traditionell werden an diesem Tag Kräuterbüschel gebunden: kunstvoll arrangierte Sträuße aus Heilpflanzen, die getrocknet und für das kommende Jahr aufbewahrt werden. In dieser Periode ist „alle Kraft im Überirdischen“, wie es im Volksglauben heißt – in den Blüten und Samen, in denen das Leben für das nächste Jahr gesichert wird. Erst mit der Tag-und-Nachtgleiche im September zieht sich die Energie der Pflanzen in die Wurzeln zurück.

Kräuterbüschel

Diese Bilder sind nicht nur landwirtschaftlich oder heilkundlich bedeutsam, sondern auch psychologisch kraftvoll. Sie sprechen vom Reifeprozess – einem Moment, in dem Wachstum nicht mehr nach außen drängt, sondern sich zu einem Höhepunkt verdichtet. Die Pflanze sammelt ihre Kräfte, um ihre Essenz in den Samen zu legen. Übertragen auf den Menschen ist dies ein Sinnbild für jene Phasen im Leben, in denen wir nicht Neues beginnen, sondern das Gewachsene vollenden, verdichten, absichern.

Reife als psychologischer Prozess
In der Entwicklungspsychologie gibt es das Konzept der Generativität – die Fähigkeit, das, was wir aufgebaut haben, an die nächste Generation oder an die Gemeinschaft weiterzugeben. Das kann Wissen sein, Fürsorge, ein Projekt, ein Wert. Der Frauendreißiger erinnert daran, dass es nicht immer um permanentes Wachsen oder Verändern geht, sondern um die Pflege und Weitergabe von Erreichtem.

Die Kraft der Verdichtung
Die Natur lehrt uns in dieser Zeit auch etwas über Prioritäten: Die Pflanze steckt ihre Energie gezielt in den Samen – das Wesentliche. Psychologisch bedeutet das, Ballast abzuwerfen und sich auf Kernanliegen zu konzentrieren. In einer Welt, die Dauerbeschleunigung liebt, ist diese Fokussierung eine Form innerer Selbstfürsorge.

Übergänge bewusst gestalten
Dass sich die Energie nach der Tag-und-Nachtgleiche wieder in die Wurzeln zurückzieht, spiegelt den Zyklus von Aktivität und Rückzug, den wir alle brauchen. Nach dem Ausreifen folgt das Sammeln im Inneren – eine Phase der Regeneration, in der wir uns auf das Wesentliche besinnen. Wer diesen Rhythmus respektiert, lebt im Einklang mit inneren und äußeren Kräften.

Vielleicht sind die gebundenen Kräuterbüschel daher nicht nur Heilpflanzenbündel, sondern auch kleine psychologische Erinnerungsstücke: daran, dass jede Reifezeit ihren Wert hat, dass Ausrichtung und Konzentration entscheidend sind – und dass Rückzug kein Verlust, sondern Vorbereitung auf das nächste Blühen ist.

Stell dir das Schlimmste vor – um das Beste zu leben

Optimismus, Fortschrittsdenken, Purpose – diese Schlagworte dominieren die moderne Selbsthilfeliteratur. Und doch lohnt es sich, einen weniger populären Weg zu gehen: den des bewussten, konstruktiven Pessimismus. Genauer gesagt: den der negativen Visualisierung.

Diese Technik hat ihren Ursprung in der stoischen Philosophie und wird heute zunehmend auch psychologisch neu bewertet. Sie bietet einen kraftvollen Zugang zu einem geerdeten, flexiblen und sinnerfüllten Leben – gerade in einer Zeit, in der viele im Streben nach Glück und Erfolg ausbrennen.

Schiffbruch - negative Visualisierung

Was ist negative Visualisierung?

Die lateinische Bezeichnung premeditatio malorum – das „Vorherbedenken des Schlechten“ – stammt aus der Feder des römischen Philosophen Seneca. Die Idee: Man stellt sich bewusst vor, wie Dinge scheitern, verloren gehen oder nicht wie geplant verlaufen. Klingt unangenehm? Ist es zunächst auch – aber nur auf den ersten Blick.

Denn Ziel dieser Übung ist nicht Angst, sondern Akzeptanz. Wer regelmäßig mit dem Worst Case spielt, verliert die lähmende Angst davor – und gewinnt gleichzeitig ein tieferes Gefühl der Dankbarkeit für das, was da ist.

Drei Wege, wie negatives Denken uns positiv verändern kann

1. Den Weg mehr schätzen als das Ziel

Viele Lebenspläne sind auf ein großes Ziel fokussiert: den Studienabschluss, die Karriere, den perfekten Partner, das Traumhaus. Aber was, wenn wir diese Ziele nie erreichen? Oder wenn sie sich am Ende doch nicht als erfüllend erweisen?

Indem wir uns vorstellen, dass der große Erfolg ausbleibt, zwingen wir uns zur Reflexion: Würde ich den Weg trotzdem gehen? Wenn ja – haben wir etwas gefunden, das intrinsisch Sinn macht. Kleine, alltägliche Schritte bekommen dann plötzlich ein ganz anderes Gewicht.

Psychologischer Effekt: Die Betonung der Tätigkeit an sich (statt auf externen Outcomes) fördert intrinsische Motivation und schützt vor Frustration durch unerfüllbare Erwartungen.

2. Raum schaffen für Unerwartetes

Ein fixiertes Ziel kann wie Scheuklappen wirken. Wer sich ausschließlich auf das Gipfelkreuz konzentriert, übersieht vielleicht das versteckte Tal am Wegrand – eine überraschende Begegnung, ein neuer Gedanke, ein bislang unentdeckter Lebensweg.

Negative Visualisierung öffnet die Perspektive: Was, wenn mein Plan nicht aufgeht – was entdecke ich stattdessen? Diese Haltung fördert geistige Flexibilität und macht uns empfänglicher für Zufälle, Wendepunkte und „Fehler“, die sich als Glücksfall entpuppen.

Therapeutischer Aspekt: Akzeptanz von Unsicherheit stärkt psychische Resilienz und die Fähigkeit zur Neubewertung („Reframing“).

3. Dem Glück ein realistisches Fundament geben

Viele Menschen erleben nach dem Erreichen großer Ziele eine paradoxe Leere. Dieses Phänomen nennt sich hedonistische Adaption: Selbst das Beste wird mit der Zeit zur Normalität – und verliert seinen Reiz.

Wer sich regelmäßig klarmacht, wie leicht auch das scheinbar Selbstverständliche verloren gehen kann, kultiviert eine tiefere Dankbarkeit im Alltag. Nicht trotz, sondern gerade wegen der Vorstellung, es könnte anders sein.

Psychologische Wirkung: Der Fokus verschiebt sich vom „Ich bin erst glücklich, wenn…“ hin zum „Ich bin zufrieden, obwohl…“.

Fazit: Pessimismus als praktischer Lebenshelfer

Die stoischen Philosophen waren keine Zyniker. Sie waren Pragmatiker – und erstaunlich modern. Ihre zentrale Botschaft: Bereite dich innerlich auf das vor, was du nicht kontrollieren kannst, um dich auf das zu konzentrieren, was du gestalten kannst.

Negative Visualisierung bedeutet nicht Resignation – sondern Befreiung.

Wer sich regelmäßig vorstellt, dass Dinge scheitern könnten:

  • lernt, sich nicht zu sehr an Ziele zu klammern,
  • entdeckt Sinn im Prozess selbst,
  • bleibt offen für Alternativen,
  • und bewahrt eine stabile Zufriedenheit trotz Wandel und Verlust.

In einer Welt, die von Leistung und Hochglanzträumen geprägt ist, kann dieser kleine Perspektivwechsel genau das sein, was uns zurück ins Hier und Jetzt bringt – und damit zu einem wahrhaft erfüllten Leben.

Reflexionsfragen

  1. Welche meiner aktuellen Lebensziele wären für mich auch dann sinnvoll, wenn ich sie niemals vollständig erreiche?
    → Diese Frage hilft, zwischen äußeren Erfolgen und innerer Sinnhaftigkeit zu unterscheiden.
  2. Was in meinem Leben nehme ich als selbstverständlich hin – und wie würde ich darüber denken, wenn es morgen nicht mehr da wäre?
    → Diese Perspektive fördert Dankbarkeit und Präsenz im Alltag.
  3. Wie könnte ich mit mehr Leichtigkeit auf Umwege oder „Scheitern“ reagieren, wenn ich sie nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit begreife?
    → Hier geht es um die Entwicklung psychologischer Flexibilität und Offenheit für neue Wege.

Literatur

Hadot, P. (2001). Die innere Festung: Der Weg zu sich selbst mit den „Selbstbetrachtungen“ des Marcus Aurelius (U. Meyer, Übers.). C.H. Beck.

Irvine, W. B. (2011). Die Kunst des guten Lebens: Das stoische Handbuch für moderne Lebenskunst (J. Knauer, Übers.). FinanzBuch Verlag.

Long, A. A. (2011). Epiktet: Ein stoischer Philosoph als Lehrer des Lebens (F. Schlechtriemen, Übers.). Marix Verlag.

Seneca. (2010). Briefe an Lucilius (M. Schöne & R. Nickel, Hrsg. & Übers.). Reclam Verlag.