Psychologie trifft Märchen: Frau Holle

Das Märchen Frau Holle erzählt die Geschichte zweier ungleicher Schwestern, die für ihr Verhalten auf symbolische Weise belohnt oder bestraft werden. Es handelt von Fleiß, Gehorsam und der Suche nach Glück, verknüpft mit archetypischen Themen wie dem Übergang zwischen zwei Welten. Neben seiner zeitlosen Moral bietet das Märchen auch faszinierende psychologische und gesellschaftliche Aspekte, die es wert sind, näher betrachtet zu werden.

Das Märchen:

Hier das Märchen als Hörbuch und zum Lesen.

Frau Holle - Schnee

Die Charaktere:

Das Märchen bietet durch seine Charaktere ein faszinierendes psychologisches Spannungsfeld. Die zentralen Figuren – die goldene Jungfrau, die schmutzige Jungfrau, Frau Holle und die Witwe – verkörpern archetypische Eigenschaften und soziale Dynamiken, während Nebencharaktere wie das Brot, das Apfelbäumchen und der Hahn symbolische Prüfungs- und Kommentarfunktionen übernehmen. Jede Figur trägt zur Erzählstruktur und den moralischen Lektionen bei, die das Märchen vermittelt.

Die goldene Jungfrau: Tugend und Selbstaufopferung

Die goldene Jungfrau steht für Tugend, Fleiß und Aufopferungsbereitschaft. Als Stieftochter der Witwe wird sie ungerecht behandelt und muss die niederen Aufgaben übernehmen. Trotz ihres Schicksals zeigt sie keinen Widerstand, sondern geht bis zur Selbstaufgabe: Der Sprung in den Brunnen, eine potenziell tödliche Handlung, ist Ausdruck ihres blinden Pflichtbewusstseins. In der Anderswelt bleibt sie ihrer Hilfsbereitschaft treu und erfüllt alle Aufgaben gewissenhaft. Erst am Wendepunkt, als sie Frau Holle um ihre Rückkehr bittet, zeigt sie Selbstbehauptung. Dieser Akt individueller Stärke macht sie zur Heldin, da sie sich erstmals erlaubt, ihre eigenen Bedürfnisse zu äußern. Ihre Belohnung – der Goldregen – steht symbolisch für die Anerkennung ihrer Tugenden und ihres neu gewonnenen Selbstbewusstseins.

Die schmutzige Jungfrau: Egoismus und Scheitern

Im Gegensatz zur goldenen Jungfrau ist die schmutzige Jungfrau egoistisch, faul und instabil. Sie ist geprägt durch die Bevorzugung und Instrumentalisierung ihrer Mutter, der Witwe, und handelt lediglich aus Eigennutz. Ihre oberflächlichen Bemühungen, ihre Stiefschwester zu imitieren, scheitern schnell, da sie weder Durchhaltevermögen noch echte Hilfsbereitschaft zeigt. Ihr Scheitern wird mit einem Pechregen bestraft, der sowohl die Konsequenz ihres Charakters als auch ihres Verhaltens darstellt. Sie ist die Verliererin, die sich durch ihre Selbstzentriertheit und mangelnde Reflexion selbst in diese Rolle bringt.

Frau Holle: Richterin und Lehrerin

Frau Holle ist eine ambivalente, fast gottgleiche Instanz. Sie repräsentiert eine höhere Ordnung, die über die Grenzen von Himmel und Erde hinausgeht. Ihre Welt, die sich paradox in der Tiefe statt im Himmel befindet, spiegelt die Dualität von Belohnung und Bestrafung wider. Frau Holle ist sowohl Lehrerin als auch Richterin, die die beiden Mädchen auf die Probe stellt und basierend auf deren Charakteren angemessen belohnt oder bestraft. Ihre Entscheidungen sind gerecht und spiegeln die moralische Ordnung des Märchens wider.

Die Witwe: Manipulatorin und Getriebene

Die Witwe agiert als Antagonistin. Ihre Bevorzugung ihrer leiblichen Tochter spiegelt eine evolutionäre Präferenz wider, die sich jedoch in moralischer Verfehlung äußert. Sie manipuliert und drängt ihre Töchter zu Handlungen, die sie selbst nicht ausführen möchte. Ihre Versuche, das Glück der goldenen Jungfrau zu replizieren, schlagen fehl, da sie die grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Mädchen ignoriert. Am Ende steht sie als Symbol für ungerechte Behandlung und die daraus resultierenden Konsequenzen.

Nebencharaktere: Prüfende und Kommentierende

Die Nebencharaktere – das Brot, das Apfelbäumchen und der Hahn – nehmen eine symbolische Funktion ein. Brot und Apfelbäumchen prüfen die Mädchen auf ihre Hilfsbereitschaft und Empathie, während der Hahn als Kommentator die soziale Dynamik des Dorfes reflektiert. Sie tragen zur Erzählstruktur bei, indem sie die Tugenden der goldenen Jungfrau und die Mängel der schmutzigen Jungfrau hervorheben.

Durch die Analyse der Charaktere von Frau Holle wird deutlich, wie das Märchen soziale Rollen, moralische Werte und psychologische Dynamiken miteinander verknüpft. Die Figuren repräsentieren archetypische Eigenschaften und spiegeln grundlegende menschliche Konflikte zwischen Tugend und Egoismus wider.

Psychologische Phänomene:

Das Märchen illustriert zentrale psychologische Mechanismen, die das Verhalten und die Entscheidungen der Charaktere prägen. Besonders hervorzuheben sind dabei die Konzepte des autoritären Charakters, blinder Gehorsam und die Parallelen zum Milgram-Experiment. Diese Phänomene geben Einblick in die tiefere Dynamik des Märchens und ermöglichen einen Transfer zu realen psychologischen und sozialen Kontexten.

Charakter und Gehorsam: Die goldene Jungfrau als archetypische Gehorsame

Die goldene Jungfrau ist ein Paradebeispiel für bedingungslosen Gehorsam. Ihr Verhalten zeigt eine beinahe vollständige Hingabe an die von Autoritäten gestellten Anforderungen, sei es durch die Stiefmutter oder später durch Frau Holle. Dieser Gehorsam geht weit über das normale Maß hinaus und grenzt an Selbstaufgabe – sichtbar in ihrem Sprung in den Brunnen, der als eine Art Initiationsritus mit ungewissem Ausgang interpretiert werden kann.

Die Theorie des autoritären Charakters von Theodor W. Adorno beschreibt eine Persönlichkeit, die durch Erziehung und Sozialisation eine Neigung entwickelt, Autoritäten zu gehorchen, ohne diese infrage zu stellen. Die goldene Jungfrau scheint ein solches Produkt ihrer Umwelt zu sein. Unter der Kontrolle ihrer Stiefmutter hat sie gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren und Befehle bedingungslos auszuführen. Dieses Verhalten setzt sie auch in der Anderswelt fort, wo sie die Prüfungen des Brots und des Apfelbäumchens sowie die Haushaltsaufgaben bei Frau Holle klaglos erfüllt.

Die Reflexion über die Eigenständigkeit der goldenen Jungfrau wirft kritische Fragen auf: Handelt sie aus eigenem Willen oder lediglich aus einem erlernten Gehorsam heraus? Verbirgt sich hinter ihrer Haltung möglicherweise die Unfähigkeit, selbstständig Entscheidungen zu treffen? Diese Fragen sind zentral, um zu verstehen, ob ihr Verhalten als Tugend oder als erlernte Anpassung zu interpretieren ist.

Parallelen zum Milgram-Experiment: Gehorsam unter Autorität

Das Milgram-Experiment von 1961, das den blinden Gehorsam gegenüber Autoritäten untersuchte, bietet eine spannende Parallele zum Verhalten der goldenen Jungfrau. In diesem Experiment zeigten die meisten Teilnehmer eine Bereitschaft, Anweisungen eines Versuchsleiters zu befolgen, selbst wenn dies bedeutete, anderen potenziell schweren Schaden zuzufügen. Die Teilnehmer rechtfertigten ihr Verhalten oft damit, dass sie lediglich Befehle ausführten.

Der Sprung der goldenen Jungfrau in den Brunnen erinnert an diese Dynamik. Die Forderung der Stiefmutter, die Spule zurückzuholen, stellt eine unmenschliche Aufgabe dar, die sie jedoch ohne Widerspruch annimmt. Ähnlich wie die Teilnehmer des Milgram-Experiments, die sich hinter der Autorität des Versuchsleiters versteckten, scheint die goldene Jungfrau sich hinter ihrer Rolle als gehorsames Kind zu verstecken, ohne die Gefahr oder die Moral der Anforderung zu hinterfragen.

Das Märchen regt zur Reflexion über Gehorsam an, insbesondere darüber, wann Gehorsam notwendig ist und wann er zur Gefahr wird. Die Geschichte der goldenen Jungfrau zeigt sowohl die Vorteile – etwa die Belohnung und Anerkennung durch Frau Holle – als auch die Gefahren eines solchen Verhaltens. Diese Fragen bleiben aktuell:

  1. Wann handeln wir aus blindem Gehorsam, ohne zu hinterfragen?
  2. Welche Konsequenzen hat es, wenn wir Autoritäten bedingungslos folgen?
  3. Wann kann Gehorsam vorteilhaft oder gar unerlässlich sein?

Neben den Aspekten des Gehorsams lässt sich das Verhalten der goldenen Jungfrau mit dem Stockholm-Syndrom und der Theorie des sozialen Vergleichs in Verbindung bringen.

Stockholm-Syndrom: Sehnsucht nach der Heimat trotz Leid

Die goldene Jungfrau zeigt ein bemerkenswertes Verhaltensmuster, das an das Stockholm-Syndrom erinnert. Obwohl sie von ihrer Stiefmutter unterdrückt und ausgenutzt wird, entwickelt sie in der Anderswelt bei Frau Holle Heimweh und wünscht sich zurück in die vertraute Umgebung. Dieses paradoxe Verlangen lässt sich mit der psychologischen Dynamik erklären, bei der Opfer Sympathie oder sogar Zuneigung für ihre Täter entwickeln.

Das Stockholm-Syndrom beschreibt, wie Opfer beginnen, die Handlungen ihrer Peiniger zu rechtfertigen oder positiv zu bewerten. Diese kognitive Verzerrung tritt oft bei Menschen auf, die isoliert oder emotional stark belastet sind. Für die goldene Jungfrau mag die Unterdrückung durch ihre Stiefmutter schmerzhaft gewesen sein, doch bot ihr diese Situation auch eine gewisse Struktur und Sicherheit. Bei Frau Holle fehlt ihr die familiäre Bindung, und sie empfindet Isolation trotz der objektiven Fürsorge. Dieser innere Konflikt spiegelt die universelle menschliche Sehnsucht nach Zugehörigkeit wider, selbst in dysfunktionalen Kontexten.

Die Geschichte der goldenen Jungfrau verdeutlicht, warum manche Menschen Schwierigkeiten haben, sich aus ungesunden Beziehungen zu lösen. Emotionale Bindungen und die Angst vor völliger Heimatlosigkeit können selbst zerstörerische Beziehungen attraktiv erscheinen lassen.

Reflexionsfragen:

  • Warum fällt es Opfern schwer, sich aus missbräuchlichen Beziehungen zu befreien?
  • Ist Heimat ein Konzept, das trotz objektiver Negativität tröstlich wirken kann?

Glücksempfinden und sozialer Vergleich: Die Falle des Strebens nach fremdem Glück

Das Märchen thematisiert auch die Suche nach Glück und zeigt eindringlich, wie der Vergleich mit anderen zur Quelle von Unglück werden kann. Die Theorie des sozialen Vergleichs (Festinger, 1954) beschreibt, wie Menschen ihr eigenes Glück in Relation zu anderen bewerten. Der Vergleich kann aufwärtsgerichtet sein, wenn wir uns mit erfolgreicheren Menschen messen, oder abwärtsgerichtet, wenn wir auf weniger privilegierte schauen. Beide Formen sind problematisch, da sie den Fokus vom eigenen inneren Glück entfernen.

Die schmutzige Jungfrau illustriert diese Dynamik perfekt. Obwohl sie privilegiert ist, strebt sie nach dem vermeintlichen Glück ihrer Stiefschwester und versucht, deren Verhalten zu kopieren. Doch ihre Bemühungen bleiben oberflächlich und ohne die innere Überzeugung, die das Handeln der goldenen Jungfrau auszeichnet. Am Ende scheitert sie und erhält das sprichwörtliche „Pech“. Dieses Ergebnis zeigt, dass Glück nicht durch Nachahmung erreicht werden kann – es ist ein individueller Prozess, der von persönlichen Werten und innerer Authentizität abhängt.

Die moralische Botschaft des Märchens wird hier deutlich: Wahres Glück entsteht aus der Verbindung zu den eigenen Wünschen und Zielen, nicht durch den Versuch, den Erfolg oder die Freude anderer zu replizieren.

Reflexionsfragen:

  • Orientieren Sie sich beim Streben nach Glück an anderen oder an Ihren eigenen Maßstäben?
  • Kann der Vergleich mit anderen die eigene Zufriedenheit beeinträchtigen?

Die psychologischen Phänomene im Märchen Frau Holle sind mehr als literarische Motive. Sie werfen Fragen auf, die auch heute noch von Relevanz sind. Ob es um ungesunde Bindungen oder die Suche nach individuellem Glück geht – das Märchen lädt dazu ein, die eigene Psyche zu hinterfragen und wertvolle Einsichten zu gewinnen.

Bedeutung für die heutige Zeit: Lektionen aus Frau Holle

Das Märchen hat auch in der modernen Gesellschaft eine erstaunliche Relevanz. Es illustriert archetypische Themen wie Gehorsam, Leistungsdenken und die Suche nach Glück, die nach wie vor unser Leben prägen. Indem wir die Erzählung reflektieren, können wir Einsichten gewinnen, die uns helfen, bewusster zu leben.

Denken und Entscheiden: Die Kraft der Selbstbestimmung

Die goldene Jungfrau lebt lange in einem Zustand des blinden Gehorsams und fügt sich in die vorgegebenen Strukturen. Ihr Verhalten zeigt die Erleichterung, die sich aus einem vorgezeichneten Weg ergibt – Entscheidungen und deren Konsequenzen werden delegiert. Doch das Märchen führt uns auch die Grenzen dieser Haltung vor Augen: Ein solches Leben mag weniger Verantwortung erfordern, aber es verhindert auch die aktive Gestaltung des eigenen Schicksals.

In der heutigen Zeit stehen wir vor einer Flut von Entscheidungen – von Alltäglichem bis hin zu Lebensveränderndem. Die Verlockung, Entscheidungen zu vermeiden oder sie Autoritäten zu überlassen, ist groß. Doch gerade bei den wirklich wichtigen Fragen ist es essenziell, innezuhalten und die eigene Position zu reflektieren.

Impulse zur Reflexion:

  • Wie treffen Sie Ihre Entscheidungen? Spontan, durch Abwägung oder folgen Sie oft der Meinung anderer?
  • Gibt es Bereiche in Ihrem Leben, in denen Sie mehr Selbstverantwortung übernehmen könnten?

Leistungs- und Sollerbringung: Ein Balanceakt zwischen Einsatz und Überforderung

Die goldene Jungfrau repräsentiert den Inbegriff von Hingabe und Leistung. Ihr Weg ist geprägt von harter Arbeit, die schließlich belohnt wird. Doch diese Aufopferung birgt eine Warnung: Wer sich ständig verausgabt, ohne auf sich selbst zu achten, läuft Gefahr, seine Grenzen zu überschreiten.

Unsere heutige Leistungsgesellschaft fordert oft ein ähnliches Verhalten. Der Druck, immer mehr zu leisten, beginnt schon früh und zieht sich durch alle Lebensbereiche. Burnout und Erschöpfung sind häufig die Konsequenzen. Das Zitat des Dalai Lama erinnert uns daran, dass ständige Leistungsorientierung nicht zu einem erfüllten Leben führt.

Der Mensch opfert seine Gesundheit, um Geld zu machen.
Dann opfert er sein Geld, um seine Gesundheit wiederzuerlangen.
Und dann ist er so ängstlich wegen der Zukunft,
dass er die Gegenwart nicht genießt;
das Resultat ist, dass er nicht in der Gegenwart oder in der Zukunft lebt; er lebt, als würde er nie sterben,
und dann stirbt er und hat nie wirklich gelebt.

Impulse zur Reflexion:

  • Erkennen Sie Anzeichen von Überforderung in Ihrem Leben?
  • Wie setzen Sie Prioritäten zwischen Leistung und Selbstfürsorge?

Glück: Den eigenen Weg finden

Das Märchen stellt auch die Suche nach dem eigenen Glück in den Mittelpunkt. Die schmutzige Jungfrau scheitert daran, das Glück ihrer Stiefschwester zu kopieren, und erhält stattdessen Pech. Diese Lektion ist universell: Glück kann nicht durch Nachahmung oder die Anpassung an fremde Vorstellungen gefunden werden. Es erfordert, den eigenen Werten zu folgen und authentisch zu leben.

In der heutigen Welt werden wir oft durch soziale Medien oder gesellschaftliche Normen dazu verleitet, uns mit anderen zu vergleichen. Doch wahres Glück ist individuell und entspringt der inneren Klarheit über die eigenen Bedürfnisse und Werte.

Impulse zur Reflexion:

  • Wie definieren Sie Ihr persönliches Glück?
  • Welche äußeren Einflüsse lenken Sie möglicherweise von Ihrem Weg ab?

Fazit: Ein Märchen als zeitlose Lebensweisheit

Das Märchen Frau Holle vermittelt wichtige Botschaften, die auch in der heutigen Zeit Gültigkeit haben. Es lehrt uns, über blinden Gehorsam hinauszuwachsen, einen gesunden Umgang mit Leistungsanforderungen zu finden und den Mut zu entwickeln, unser eigenes Glück zu suchen.

Die goldene Jungfrau zeigt, dass Hingabe und Fleiß positive Eigenschaften sein können, solange sie im Einklang mit den eigenen Bedürfnissen und Werten stehen. Gleichzeitig mahnt uns das Märchen, dass ein Leben ohne Reflexion und Selbstbestimmung unbefriedigend bleibt.

Nutzen wir die Lehren aus Frau Holle, um bewusstere Entscheidungen zu treffen, unsere Belastbarkeit achtsam zu gestalten und das Glück in uns selbst zu finden. In einer Welt voller Herausforderungen können wir so unseren Weg zu einem erfüllten Leben finden – mit einer Prise Märchenmagie im Herzen.

Lesens- und Sehenswertes:

https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/magie-der-maerchen-frau-holle-und-ihre-versunkene-welt-100.html


Adorno, T. W., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D. J., & Sanford, R. N. (1950). The authoritarian personality. Harper & Brothers.

Ehrmann, S. (2011). Die Lebensweisheiten des Dalai Lama: Inspiration für jeden Tag. Arkana.

Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes. Human Relations, 7(2), 117–140.

Frey, D. (Hrsg.). (2015). Psychologie der Märchen. Springer.

Grimm, J., & Grimm, W. (2013). Frau Holle und andere Märchen. Reclam Verlag.

Harnischmacher, K., & Muether, B. (1987). Das Stockholm-Syndrom: Zur Psychodynamik einer paradoxen Bindung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 36(6), 201–208.

Milgram, S. (1963). Behavioral study of obedience. Journal of Abnormal and Social Psychology, 67(4), 371–378.

Zipes, J. (2012). The irresistible fairy tale: The cultural and social history of a genre. Princeton University Press.


Rotkäppchen und der böse Wolf

Das Märchen „Rotkäppchen“ ist eines der bekanntesten und meistinterpretierten Geschichten in der Weltliteratur. Ursprünglich von den Brüdern Grimm aufgeschrieben, bietet es nicht nur moralische Lektionen, sondern auch tiefe Einblicke in menschliche Verhaltensweisen und soziale Dynamiken. Aus einer sozialpsychologischen Perspektive lassen sich verschiedene Phänomene wie das Dramadreieck, Vertrauen, prosoziales Verhalten und die Rolle von Versprechen untersuchen.

Das Märchen

Hier das Märchen als Hörbuch und zum Lesen.

Rotkäppchen

Charaktere im Märchen

  • Die Mutter spielt eine Nebenrolle, die jedoch psychologisch bedeutsam ist. Sie handelt fürsorglich und besorgt, als sie Rotkäppchen bittet, der kranken Großmutter Gaben zur Genesung zu bringen. Ihre Ermahnung, nicht vom Weg abzukommen, deutet auf ihre ständige Sorge um das Wohlergehen ihres Kindes hin. Diese Sorge wird jedoch nicht hinreichend ernst genommen, was letztlich zu den späteren Gefahren führt.
  • Die Großmutter wird als kranke und auf die Unterstützung ihrer Familie angewiesene Person beschrieben. Ihre Hilflosigkeit ist der Grund, warum Rotkäppchen überhaupt den gefährlichen Weg durch den Wald auf sich nimmt. In sozialpsychologischer Hinsicht ist die Großmutter ein typisches Opfer – schwach und verletzlich, was sie zu einem Ziel für die Manipulation des Wolfs macht.
  • Rotkäppchen steht im Zentrum des Märchens. Sie wird als süß, höflich und naiv beschrieben, wodurch sie den Stereotypen eines unschuldigen Kindes entspricht. Ihr vertrauensvolles Verhalten macht sie zur leichten Beute für den Wolf. Sie erkennt die Gefahr nicht und vertraut dem Wolf bedenkenlos alle Informationen an, die er für seinen Plan benötigt. Ihre Naivität führt dazu, dass sie ihr Versprechen gegenüber der Mutter bricht und sich vom Weg abbringen lässt. Dies bringt nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Großmutter in große Gefahr.
  • Der Wolf symbolisiert das „Böse“ im Märchen. Er spiegelt Manipulation, Täuschung und Gier wider. Er nutzt gezielt Rotkäppchens Naivität aus und plant hinterlistig, nicht nur die Großmutter, sondern auch Rotkäppchen zu fressen. Er repräsentiert die dunkle Seite der menschlichen Natur: das Ausnutzen von Schwächen anderer, um eigene egoistische Ziele zu verfolgen.
  • Der Jäger ist der positive Gegenpol des Märchens. Er handelt prosozial und wird als aufmerksam und sensibel beschrieben. Als er das Schnarchen im Haus der Großmutter hört, schreitet er ein, um nach dem Rechten zu sehen. In einer Situation der Not handelt er nicht nur umsichtig, sondern auch mit hoher sozialer Verantwortung. Anstatt den Wolf sofort zu erschießen, wählt er eine weniger gewaltsame Methode, um Rotkäppchen und die Großmutter zu retten. Der Jäger verkörpert somit das prosoziale Handeln, das auf Empathie und Verantwortung basiert.

Sozialpsychologische Phänomene

Das Dramadreieck

Das Dramadreieck von Karpman beschreibt drei grundlegende Rollen, die in Konfliktsituationen immer wieder auftreten: das Opfer, den Verfolger und den Retter. Dieses Modell stammt aus der Transaktionsanalyse und dient dazu, zwischenmenschliche Konflikte und die Dynamik dahinter besser zu verstehen. In diesem Beziehungsmuster nehmen Personen häufig eine dieser Rollen ein, und die Interaktionen zwischen den Beteiligten verlaufen in diesem Rahmen. Das Opfer fühlt sich hilflos, überfordert und oft ungerecht behandelt, während der Verfolger als autoritär und bedrohlich auftritt, um das Opfer zu unterdrücken oder zu kontrollieren. Der Retter wiederum versucht, das Opfer zu schützen und seine Probleme zu lösen, oft, ohne dass dies wirklich nötig ist oder eine dauerhafte Lösung bietet.

Im Märchen „Rotkäppchen“ wird das Dramadreieck deutlich erkennbar. Rotkäppchen und die Großmutter befinden sich in der Opferrolle, da sie dem Wolf gegenüber machtlos sind. Sie sind verletzlich und angewiesen auf Hilfe. Der Wolf repräsentiert den Verfolger, da er mit List und Täuschung sowohl die Großmutter als auch Rotkäppchen in Gefahr bringt, um seine egoistischen Bedürfnisse zu befriedigen. Er agiert manipulativ und gewalttätig, was typisch für die Rolle des Verfolgers ist. Der Jäger tritt schließlich als Retter auf, der die Situation entschärft, indem er den Wolf besiegt und die Opfer befreit.

Interessanterweise verändert sich die Dynamik im Verlauf der Geschichte. Am Ende des Märchens verschieben sich die Rollen, als Rotkäppchen, die Großmutter und der Jäger zusammenarbeiten, um den Wolf zu besiegen. Sie füllen seinen Bauch mit Steinen und bringen ihn so zu Tode. Damit wird der Wolf selbst zum Opfer, während die vorherigen Opfer (Rotkäppchen und die Großmutter) aktiv werden und sich gegen den Verfolger zur Wehr setzen. Diese Umkehrung zeigt, dass die Rollen im Dramadreieck nicht starr sind; Personen können je nach Situation von einer Rolle in eine andere wechseln. Das Märchen verdeutlicht, wie durch Kooperation und proaktives Handeln Machtverhältnisse umgedreht und Konflikte gelöst werden können.

Das Dramadreieck bietet somit eine wertvolle Grundlage, um nicht nur die Figuren im Märchen zu verstehen, sondern auch reale zwischenmenschliche Konflikte zu analysieren, in denen Menschen oft in ähnliche Muster von Opfer, Verfolger und Retter verfallen.

Versprechen

Ein weiteres zentrales Phänomen im Märchen „Rotkäppchen“ ist das Versprechen. Versprechen spielen in zwischenmenschlichen Beziehungen eine große Rolle, da sie Erwartungen schaffen und Vertrauen aufbauen. Wenn ein Versprechen gegeben wird, entsteht eine Verbindlichkeit, die nicht nur den, der es gibt, sondern auch den Empfänger des Versprechens betrifft. Im Märchen verspricht Rotkäppchen ihrer Mutter, den Weg zur Großmutter nicht zu verlassen. Doch als sie im Wald auf den Wolf trifft, bricht sie dieses Versprechen leichtfertig, indem sie sich von ihm dazu verleiten lässt, Blumen zu pflücken und vom Weg abzukommen. Hier zeigt sich, dass Versprechen oft nicht eingehalten werden, weil die Selbstregulationsfähigkeiten – also die Fähigkeit, den eigenen Impulsen zu widerstehen – unzureichend sind. Besonders bei Kindern, wie in Rotkäppchens Fall, fehlt es noch an der Reife, um die Langzeitfolgen eines gebrochenen Versprechens vollständig zu begreifen.

Das Brechen des Versprechens hat schwerwiegende Folgen: Rotkäppchen und ihre Großmutter geraten in Gefahr, und die Handlung nimmt eine dramatische Wendung. Psychologisch gesehen zeigen Versprechen nicht nur die Verlässlichkeit einer Person, sondern auch die Qualität einer Beziehung. Forschungen belegen, dass das Einhalten von Versprechen das Vertrauen in eine Beziehung stärkt, während gebrochene Versprechen das Gegenteil bewirken – sie können Misstrauen und Distanz schaffen. Im Märchen wird diese Vertrauensdynamik besonders deutlich: Das gebrochene Versprechen führt zu einer gefährlichen Situation, die nur durch das Eingreifen des Jägers gerettet werden kann.

Interessant ist, dass Rotkäppchens Leichtfertigkeit möglicherweise durch ihr Alter und ihre kindliche Unbedarftheit entschuldbar ist. Sie hat noch nicht die Reife, die Konsequenzen ihres Handelns voll zu überblicken. Zudem könnte man argumentieren, dass ihre Mutter die Gefahr nicht ausreichend betont hat oder zu hohe Erwartungen an das Mädchen gestellt hat. So könnte es sein, dass die Verantwortung, die Rotkäppchen durch das Versprechen übernommen hat, sie überfordert hat. Dieses Spannungsfeld zwischen kindlicher Naivität und elterlichen Erwartungen zeigt, wie komplex die Dynamik hinter Versprechen und deren Einhaltung sein kann – sowohl im Märchen als auch im realen Leben.

Die Folgen eines gebrochenen Versprechens können fatal sein. Umso wichtiger ist es bereits in der Erziehung die Wichtigkeit des Einhaltens von Versprechen zu vermitteln und auch selbst nie zu vergessen: „Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen.“

Vertrauen

Ein weiteres eng mit dem Versprechen verbundenes Phänomen im Märchen „Rotkäppchen“ ist das Vertrauen. Vertrauen stellt die Grundlage für menschliche Beziehungen und soziale Ordnung dar, da es die Erwartung widerspiegelt, dass man sich auf die Worte und Handlungen anderer verlassen kann. Es fungiert als „soziales Schmiermittel“, das Kooperation und stabile soziale Interaktionen ermöglicht. Vertrauen besteht aus einer kognitiven Komponente (positive Erwartungshaltung), einer affektiven Komponente (emotionale Bindung) und einer Verhaltenskomponente (konkretes Handeln). Für „Rotkäppchen“ ist vor allem das interpersonelle Vertrauen relevant – das Vertrauen in andere Menschen.

Im Märchen zeigt sich, dass Vertrauen nicht nur positive, sondern auch negative Konsequenzen haben kann. Rotkäppchen vertraut dem Wolf, obwohl sie ihn kaum kennt. Aufgrund ihrer Naivität und ihres blinden Vertrauens gibt sie ihm bereitwillig Auskunft über ihr Ziel und ihre Großmutter. Später, als der Wolf sich als Großmutter verkleidet, hinterfragt sie zwar kurz das merkwürdige Aussehen, vertraut ihm aber trotzdem und gerät dadurch in große Gefahr. Rotkäppchens Verhalten zeigt, dass Vertrauen – vor allem wenn es unreflektiert oder blind ist – missbraucht werden kann und zu katastrophalen Folgen führen kann. Dies wird besonders deutlich, als der Wolf das Vertrauen des Mädchens ausnutzt, um sowohl sie als auch ihre Großmutter zu bedrohen.

Forschungsergebnisse zeigen, dass Vertrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen wichtig ist, da es Intimität, Vergebung und soziale Bindungen stärkt. Doch Vertrauen sollte nicht bedingungslos sein. Wie das Märchen lehrt, kann übermäßiges Vertrauen zu Täuschung und Ausnutzung führen, wenn man nicht wachsam ist. Ein ausgewogenes Maß an Vorsicht ist daher notwendig. Das Sprichwort „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ wird in „Rotkäppchen“ eindrücklich illustriert: Hätte sie dem Wolf mit mehr Misstrauen begegnet, hätte sie möglicherweise die Gefahr erkannt und sich schützen können.

Für den Alltag bedeutet dies, dass Vertrauen ein wichtiges soziales Werkzeug ist, das Komplexität reduziert und uns Sicherheit gibt. Dennoch sollten Kinder und auch Erwachsene lernen, nicht jedem blind zu vertrauen. Das Märchen vermittelt damit eine zeitlose Lehre: Vertrauen ist grundsätzlich wertvoll, sollte jedoch von einer gesunden Portion Skepsis begleitet werden, um Manipulation und Missbrauch zu verhindern.

Prosoziales Verhalten

Ein weiteres wichtiges psychologisches Phänomen im Märchen „Rotkäppchen“ ist das prosoziale Verhalten, also freiwillige Handlungen, die darauf abzielen, anderen zu helfen oder ihnen einen Gefallen zu tun. Prosoziales Verhalten kann dabei sowohl von egoistischer als auch von altruistischer Motivation getragen sein. Während egoistisch motivierte Hilfsbereitschaft häufig auf Gegenseitigkeit oder dem Wunsch nach Anerkennung beruht, entspringt altruistisches Verhalten Mitgefühl und der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.

Im Märchen zeigen verschiedene Figuren prosoziales Verhalten. Rotkäppchen folgt der Bitte ihrer Mutter und bringt der kranken Großmutter Gaben zur Genesung. Auch wenn das Verhalten des Mädchens von kindlicher Naivität geprägt ist, handelt es altruistisch und möchte ihrer Großmutter helfen. Besonders hervorzuheben ist jedoch das prosoziale Verhalten des Jägers, der in der entscheidenden Situation eine aktive Rolle übernimmt. Der Jäger handelt mit hohem Verantwortungsbewusstsein, als er das laute Schnarchen im Haus der Großmutter bemerkt und die Situation richtig als Notfall interpretiert. Ohne zu zögern, übernimmt er die Verantwortung und trifft eine mutige Entscheidung, indem er dem Wolf den Bauch aufschneidet, um Rotkäppchen und die Großmutter zu retten. Dies zeigt, dass der Jäger nicht nur die Fähigkeit zum Helfen besitzt, sondern auch die Hürden des Entscheidungsprozesses – wie die Einschätzung der Situation und die Übernahme von Verantwortung – meistert.

Aus dieser Handlung lassen sich wertvolle Lehren für den Alltag ziehen. In einer Gesellschaft, die zunehmend vom demografischen Wandel geprägt ist, wird es immer wichtiger, Verantwortung für ältere Generationen zu übernehmen, ähnlich wie Rotkäppchen es für ihre Großmutter tut. Prosoziales Verhalten, das sich durch Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein auszeichnet, ist nicht nur ein Zeichen von sozialer Reife, sondern auch von moralischer Stärke. Zudem können wir aus dem Verhalten des Jägers lernen, dass es entscheidend ist, in Notlagen aktiv zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Angesichts von Ungerechtigkeit und Leid in der heutigen Welt sollte prosoziales Handeln eine Selbstverständlichkeit sein – sei es im Umgang mit Älteren oder im Einsatz für benachteiligte und verletzliche Gruppen in der Gesellschaft.

Bedeutung für die heutige Zeit

Die Bedeutung des Märchens „Rotkäppchen“ für die heutige Zeit ist trotz seines Alters erstaunlich aktuell. Wie bereits die Analyse der psychologischen Phänomene und Verhaltensweisen der Figuren gezeigt hat, sind die darin vermittelten Lehren nach wie vor relevant. Der Wolf symbolisiert das Böse, das uns im Alltag begegnen kann – und dieses Böse ist keineswegs verschwunden. In unserer modernen Gesellschaft begegnen wir „Wölfen“ in vielerlei Gestalt: Sei es in Form von skrupellosen Geschäftsleuten, die finanzielle Vorteile aus der Not anderer ziehen, Politikern, die leere Versprechen machen, oder manipulativer Werbung, die uns falsche Hoffnungen verkauft. Die Täuschung, List und das egoistische Handeln, das der Wolf im Märchen verkörpert, finden wir auch in heutigen sozialen und wirtschaftlichen Kontexten wieder.

In einer zunehmend globalisierten und komplexen Welt wird es immer wichtiger, Verantwortung zu übernehmen und prosozial zu handeln. Gerade in einer Zeit, in der soziale Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen zunehmen, ist es an uns, für mehr Gerechtigkeit und gegenseitige Unterstützung zu sorgen. Dies gilt insbesondere im Umgang mit schwächeren, älteren oder hilfsbedürftigen Menschen, die oft übersehen oder gar ausgenutzt werden. Anders als im Märchen gibt es in der Realität selten eine ausgleichende Gerechtigkeit – umso mehr sollten wir uns bemühen, selbst Missstände aktiv zu erkennen und dagegen vorzugehen.

Auf einer persönlichen Ebene bleibt Vertrauen ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Beziehung. Die Frage, ob wir uns auf andere verlassen können, oder ob unser Vertrauen missbraucht wird, beschäftigt auch uns heute. Jeder von uns hat wahrscheinlich schon einmal die Erfahrung gemacht, vom „Weg“ abgekommen zu sein – sei es durch gebrochene Versprechen oder falsches Vertrauen. Doch wie im Märchen, wo Rotkäppchen am Ende eine Lehre aus ihren Fehlern zieht, können auch wir aus unseren Irrwegen lernen. Fehler sind unvermeidlich, aber entscheidend ist, wie wir danach handeln. Das Märchen zeigt, dass es möglich ist, klüger und vorsichtiger zu werden, wenn wir aus unseren Erfahrungen lernen – eine zeitlose Botschaft, die uns auch in der Gegenwart leiten kann.

Fazit

„Rotkäppchen“ ist ein Märchen, das durch einfache Charaktere und eine klare Handlung tiefere sozialpsychologische Botschaften vermittelt. Es warnt vor den Gefahren von Manipulation und Täuschung, betont die Bedeutung von Vertrauen, aber auch die Notwendigkeit von Wachsamkeit und Verantwortungsbewusstsein. Die Geschichte zeigt, wie wichtig prosoziales Verhalten in einer Welt ist, die oft von Egoismus und Gier geprägt ist. Auch heute noch kann das Märchen als wertvolle Lektion für das tägliche Leben und die sozialen Herausforderungen, vor denen wir stehen, dienen.

Fragen zur Selbstreflexion

Hier sind einige Fragen zur Selbstreflexion, die dir helfen können, über die Themen des Märchens „Rotkäppchen“ nachzudenken und wie sie auf dein eigenes Leben zutreffen:

Vertrauen:

  • Wo in meinem Leben habe ich Vertrauen geschenkt, und wie wurde dieses Vertrauen behandelt?
  • Gibt es Menschen, denen ich blind vertraue? Was sind die Gründe dafür?
  • Wann habe ich in der Vergangenheit Vertrauen missbraucht oder wurde ich enttäuscht? Was habe ich daraus gelernt?

Versprechen:

  • Wie wichtig ist es mir, meine Versprechen einzuhalten? Gibt es Situationen, in denen ich sie gebrochen habe?
  • Welche Auswirkungen hat das Brechen eines Versprechens auf meine Beziehungen zu anderen?
  • Wie gehe ich mit den Versprechen um, die andere mir geben?

Prosoziales Verhalten:

  • Welche Gelegenheiten hatte ich in letzter Zeit, prosozial zu handeln? Habe ich diese Chancen genutzt?
  • Fühle ich mich verantwortlich für das Wohlbefinden anderer? Wie äußert sich das in meinem Alltag?
  • Gibt es Situationen, in denen ich zögere, anderen zu helfen? Warum ist das so?

Wachsamkeit und Naivität:

  • Wo habe ich in meinem Leben naiv gehandelt? Welche Konsequenzen hatte das?
  • Wie gehe ich mit Menschen um, die versuchen, mich zu manipulieren oder auszutricksen?
  • In welchen Bereichen meines Lebens sollte ich vorsichtiger oder aufmerksamer sein?

Lernen aus Erfahrungen:

  • Was habe ich aus meinen Fehlern gelernt? Wie kann ich diese Erkenntnisse in Zukunft anwenden?
  • Gibt es bestimmte Situationen, die ich als „Irrwege“ empfinde? Was kann ich aus ihnen mitnehmen?
  • Wie kann ich meine Erfahrungen nutzen, um in schwierigen Situationen besser zu handeln?

Diese Fragen können dabei helfen, die verschiedenen psychologischen Phänomene des Märchens und deren Relevanz für das eigene Leben zu erkunden und darüber nachzudenken, wie man sich in verschiedenen Situationen verhalten möchte.

Literatur

Hier ist das Literaturverzeichnis basierend auf den von dir genannten Quellen:

Literaturverzeichnis

Bierhoff, H. W., Rohmann, E., & Frey, D. (2011). Positive Psychologie: Glück, Prosoziales Verhalten, Verzeihen, Solidarität, Bindung, Freundschaft. In D. Frey & H. W. Bierhoff (Hrsg.), Sozialpsychologie – Interaktion und Gruppe (S. 84–105). Göttingen: Hogrefe.

Graupmann, V., Osswald, S., Frey, D., Streicher, B., & Bierhoff, H. W. (2011). Positive Psychologie: Zivilcourage, soziale Verantwortung, Fairness, Optimismus, Vertrauen. In D. Frey & H. W. Bierhoff (Hrsg.), Sozialpsychologie – Interaktion und Gruppe (S. 108–129). Göttingen: Hogrefe.

Grimm, J., & Grimm, W. (2001). Rotkäppchen. In H. Rölleke (Hrsg.), Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen: Gesamtausgabe in 3 Bänden mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Ditzingen: Reclam.

Karpman, S. (1968). Fairy tales and script drama analysis. Transactional Analysis Bulletin, 7(26), 39–43.

Frey, D. (Hrsg.). (2017). Psychologie der Märchen. Springer Verlag.

Psychologie trifft Märchen: Hänsel und Gretel

Das Märchen von Hänsel und Gretel der Brüder Grimm erzählt die Geschichte von zwei Geschwistern, die von ihren Eltern ausgesetzt werden. In der Geschichte wird gelogen, dass sich die Balken biegen, aber sie erzählt auch von Optimismus, erlernter Hilflosigkeit, Konformität und Gehorsam – und ist damit aktuell wie eh und je.

Hänsel und Gretel

Das Märchen


Die Charaktere

Hänsel und Gretel wachsen geplagt von Armut auf. Hänsel kümmert sich um seine Schwester, ist vorausschauend und zuversichtlich. Gretel hingegen ist zurückhaltend, ängstlich und verlässt sich auf den Bruder. Als sich die Situation zuspitzt und die Hexe beider Leben bedroht, wendet sich das Blatt und Gretel findet den Mut, sich selbst und Hänsel zu retten.

Der Vater möchte seine Kinder eigentlich nicht im Wald aussetzen. Auf das Drängen seiner Frau hin, lässt er sich jedoch zu der schrecklichen Tat überreden und er verrät die Kinder feige. Trotzdem ist er froh, als sie zu guter Letzt heil zurückkehren.

Die Mutter zeigt keinerlei Mitgefühl oder Zuneigung. Um den eigenen Hunger zu stillen, drängt sie ihren Mann die Kinder loszuwerden und zu opfern. Sie stirbt jedoch trotzdem.

Die Hexe tief im Wald lockt Kinder mit dem köstlichen Lebkuchenhaus in die Falle um sie zu verspeisen. Ihr Ansinnen klappt jedoch nicht, denn sie selbst wird von Gretel überlistet und verbrennt im Backofen, in dem sie die beiden garen wollte.

So lassen beide Frauen, die die Kinder töten wollen, am Ende ihr Leben. Die weiblichen Charaktere im Märchen kommen ohnehin schlecht weg. Sowohl die Mutter als auch die Hexe sind böse und auch Gretel wird zunächst schwach und hilflos dargestellt.

Sozialpsychologische Phänomene

Lügen:

Die Mutter gab als Grund für den Ausflug in den Wald an, Holz zu sammeln, doch in Wahrheit hatte sie die Absicht, die Kinder dort allein zurückzulassen. Wenn wir das Märchen gezielt auf Lügen untersuchen, erkennen wir, dass sie ein durchgängiges Element der Handlung sind. Sowohl die Mutter als auch der Vater verbergen Wahrheiten vor den Kindern. Hänsel täuscht die Hexe, indem er ihr ein Knöchlein anstelle seines Fingers zeigt, und möglicherweise auch, als er Gretel versichert, den Weg finden zu können, obwohl die Vögel das Brot gefressen haben. Es stellt sich die Frage, ob er sich selbst belügt, um ruhig zu bleiben. Selbst die Hexe täuscht die Kinder, um sie zu fangen, und schließlich lügt sogar Gretel, als sie vorgibt, nicht zu wissen, was zu tun ist.

Betrachten wir diese Lügen und ihre Auswirkungen auf unsere emotionalen Reaktionen. Die meisten von uns verurteilen wahrscheinlich die Lügen der Mutter und der Hexe sowie das Schweigen des Vaters. Hänsels Lügen, um sich und seine Schwester zu retten, könnten die meisten von uns moralisch vertretbar finden. Dies verdeutlicht, wie unterschiedlich wir Lügen bewerten, abhängig von den Motiven dahinter. Höflichkeit, Notwendigkeit oder persönliche Vorteile können Gründe sein, warum jemand von der Wahrheit abweicht. Die Abgrenzung zwischen Lüge und Zurückhaltung von Informationen ist nicht immer eindeutig.

Warum haben sich Lügen und Täuschungen im Laufe der Evolution, sowohl beim Menschen als auch bei vielen Tierarten, etabliert, obwohl sie negativ bewertet werden und die Gefahr besteht, entlarvt zu werden? Forscher haben vorgeschlagen, dass Lügen als „sozialer Klebstoff“ fungieren könnten, der dazu beiträgt, Gruppen zusammenzuhalten. Diese Lügen dienen nicht egoistischen Motiven, sondern eher dem Wohlbefinden der Gruppe. Es ist plausibel anzunehmen, dass dieses Verhalten den Menschen in der Evolution einen Vorteil verschafft hat. Allerdings zeigt die Simulation auch, dass chronische Lügner sozial isoliert werden. Wie das Sprichwort sagt: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht.“

Die Botschaft des Märchens ist nicht, dass Lügen immer schlecht sind und vermieden werden sollten. Hänsel und Gretel hätten ohne ihre Notlügen im Wald sterben können. Vielmehr sollte uns die Geschichte dazu anregen, über Lügen nachzudenken:

  • Ist es moralisch vertretbar, zu lügen, um ein ehrenwertes Ziel zu erreichen?
  • Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn wir ständig mit Lügen rechnen müssen?
  • Ist Verschweigen eine Form der Lüge?
  • Welche Auswirkungen hat es, wenn wir uns selbst belügen, um eine Situation positiver darzustellen?

Optimismus:

Trotz der schwierigen Situation, die durch den Egoismus ihrer Mutter entstanden ist, bewahrt Hänsel stets eine optimistische Einstellung. Er tröstet Gretel immer wieder und bleibt zuversichtlich, dass sie die Situation überwinden können, selbst als er bemerkt, dass die Vögel seine Wegmarkierung gefressen haben.

Ein bekanntes Beispiel für den Unterschied zwischen Optimismus und Pessimismus ist die Betrachtung eines halb vollen oder halb leeren Glases. Während der Optimist die positiven Aspekte und Chancen erkennt, neigt der Pessimist dazu, Probleme und Nachteile zu sehen. Die Neigung zum Optimismus oder Pessimismus kann je nach Situation variieren. Wenn Menschen jedoch grundsätzlich eine positive Grundhaltung in ihrer Wahrnehmung, Erinnerung, in ihren Erwartungen und Denkmustern haben, spricht man von Positivität.

Die Fähigkeit, die Welt positiv wahrzunehmen, ist ein wichtiger Faktor im Umgang mit Rückschlägen. Dennoch ist es nicht immer förderlich, uneingeschränkt an das Gute zu glauben. Trotz Optimismus sollten wir realistisch bleiben. Denn wer zu naiv durch die Welt geht, wird immer wieder vermeidbare Rückschläge und Enttäuschungen erleben. Die Fähigkeit des realistischen Optimismus ist ein wichtiger Faktor für Resilienz.

Im Märchen bewahrt Hänsel einen realistischen Optimismus im Rahmen seiner Möglichkeiten, um sich und seine Schwester zu retten. Wenn Hänsel ein Pessimist gewesen wäre, hätte er vermutlich resigniert, anstatt Trost und Hoffnung zu spenden. Seine vorübergehende Hoffnungslosigkeit, als die Hexe ihn in den Stall sperrt, wird durch die Kreativität und den Optimismus von Gretel überwunden, die die Hexe schließlich besiegt.

Realistischer Optimismus hilft uns maßgeblich dabei, voranzukommen und uns weiterzuentwickeln. Jedes Kind, das laufen lernt, fällt viele Male, bevor es erfolgreich ist, und zeigt damit eine hohe Resilienz. Diese ermöglicht es ihm, nach jedem Sturz wieder aufzustehen und fest daran zu glauben, dass es bald klappen wird. Wenn wir uns hoffnungslos fühlen, können wir uns vornehmen, wie ein Kind, das gerade die ersten Schritte macht, mit realistischem Optimismus die Herausforderung anzunehmen.

Erlernte Hilflosigkeit:

Am Anfang der Geschichte ergreift Hänsel aktiv die Initiative und übernimmt die Verantwortung für das Schicksal der Geschwister. Er versucht mit Kieselsteinen und Brotkrumen den Weg zurück nach Hause zu markieren, um sich und Gretel zu retten. Im Gegensatz dazu zeigt Gretel anfangs ein passives Verhalten. Bei Rückschlägen reagiert sie mit bitterlichem Weinen und Verzweiflung. Sie glaubt nicht daran, dass sie die Situation verändern kann, und akzeptiert ihr Schicksal.

Dieses Verhalten wird auch als erlernte Hilflosigkeit bezeichnet. Dabei handelt es sich um die feste Überzeugung einer Person, dass sie eine unangenehme Situation nicht ändern kann, selbst wenn dies objektiv betrachtet nicht der Fall ist. Diese Einstellung kann zu Passivität führen, bei der man sich widerstandslos seinem Schicksal ergibt. Die eigene Selbstwirksamkeitserwartung, also die Erwartung, durch eigenes Handeln Einfluss nehmen zu können, wird durch die erlernte Hilflosigkeit stark geschwächt.

Gretel hat höchstwahrscheinlich die erlernte Hilflosigkeit durch eine Reihe negativer Lernerfahrungen entwickelt. Erst als Hänsel von der Hexe gefangen genommen wird, überwindet sie ihre Hilflosigkeit, um sich und ihren Bruder vor dem Tod zu retten. Sie stößt die Hexe in den Backofen und befreit Hänsel. Dabei macht Gretel eine korrigierende Lernerfahrung: Sie erkennt, dass ihr mutiges Handeln etwas bewirkt und sie Kontrolle über die Situation hat. Im Verlauf des Märchens entwickelt sich Gretel immer mehr zu einer aktiv handelnden Heldin.

Erlernte Hilflosigkeit kann zu Passivität, Verzweiflung und depressiven Symptomen führen. Um aus der Opferrolle auszubrechen, musste Gretel ihre eigene Selbstwirksamkeit erfahren. Auch für die gesunde Entwicklung von Kindern ist das Erleben von Selbstwirksamkeit äußerst wichtig. Bereits von Geburt an lernen Kinder durch das Ausprobieren verschiedener Verhaltensweisen, dass ihr Handeln Auswirkungen auf ihre Umwelt und das Verhalten anderer Menschen hat. Dabei sind Herausforderungen auf unbekanntem Terrain besonders wichtig, um die Selbstwirksamkeit zu stärken.

Auch im Bereich der Mitarbeiterführung sind Selbstwirksamkeit und wahrgenommene Kontrolle von großer Bedeutung für die Mitarbeiter. Gute Führungskräfte wissen, wie wichtig es ist, ihren Mitarbeitern das Gefühl zu vermitteln, dass sie etwas bewirken können und nicht den äußeren Einflüssen hilflos ausgeliefert sind. Schon allein das Zuhören bei einem Problem kann dazu beitragen, dass Mitarbeiter mehr Kontrolle über die Situation wahrnehmen und zufriedener sind.

Konformität und Gehorsam:

Im Märchen lässt sich der Vater aufgrund des Drucks seiner Frau überreden, die Kinder auszusetzen, obwohl er dies eigentlich nicht möchte. Diese Konformität führt zu einem Handeln gegen seine eigenen Prinzipien, was das Leben seiner Kinder gefährdet. Warum wehrt sich der Vater nicht gegen diesen Zwang und handelt entgegen seinem eigenen Willen?

Das bekannte Milgram-Experiment illustrierte, dass Menschen oft widerwillig und gegen ihr Gewissen handeln, wenn sie unter Druck gesetzt werden. In diesem Experiment wurden die Teilnehmer angeleitet, einer anderen Person in einem anderen Raum elektrische Schocks zu geben, wenn diese bei einer Lernaufgabe Fehler machte. Obwohl die Schmerzensäußerungen zu hören waren, wurden die Teilnehmer dazu gedrängt, weiterzumachen, auch wenn es ihnen schwerfiel. Die Ergebnisse zeigten, dass Personen unter dem Einfluss von Autorität dazu neigen können, anderen Schaden zuzufügen, selbst wenn es gegen ihre moralischen Überzeugungen verstößt.

Diese Art von Gehorsam kann durch verschiedene Faktoren erklärt werden. Zum einen durch den normativen sozialen Einfluss, bei dem Menschen ihr Verhalten an die Erwartungen anderer anpassen, um akzeptiert zu werden. Zum anderen durch den informationalen sozialen Einfluss, bei dem Menschen sich in stressigen Situationen auf die Anweisungen von vermeintlichen „Experten“ verlassen. Außerdem kann die Abgabe der persönlichen Verantwortung eine Rolle spielen, wenn Menschen sich hinter der Autorität einer anderen Person verstecken und so ihre eigene Verantwortung abschieben.

Gehorsam an sich ist ein wichtiger Wert ist, der ein geordnetes Zusammenleben ermöglicht. Doch wenn dieser Gehorsam dazu führt, dass die Würde anderer verletzt wird, wie im Märchen und und verschiedenen Experimenten dargestellt, wird er problematisch. Die Kenntnis über Faktoren wie normativen und informationalen sozialen Einfluss kann helfen, unser eigenes Handeln kritisch zu hinterfragen und uns gegen unethische Anweisungen zu wehren.

Um Menschenrechtsverletzungen durch blinden Gehorsam zu verhindern, ist Zivilcourage nötig. Zivilcourage bedeutet, mutig für die Einhaltung ethischer Normen einzutreten, auch wenn dies persönliche Kosten mit sich bringt. Es ermutigt dazu, sich gegen blinden Gehorsam zu wehren und für die Rechte anderer einzustehen.

Fazit:

Die Ereignisse in der Geschichte von Hänsel und Gretel verdeutlichen, dass dieses Märchen auch heute noch Relevanz besitzt. Themen wie Lügen, Optimismus, erlernte Hilflosigkeit und blinder Gehorsam prägen weiterhin unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Folgende Fragen, die offen bleiben, mögen Ansatzpunkte für weitere Analysen sein:

  1. Warum handeln die Eltern entgegen ihrer elterlichen Fürsorge?
  2. Warum kehren Hänsel und Gretel zu ihrem Elternhaus zurück, obwohl sie es verlassen mussten? Ist es Vergebung oder vielleicht (emotionale) Abhängigkeit, die sie zurückführt?

Literatur

Frey, D. (Ed.). (2017). Psychologie der Märchen. Springer Verlag.

Drewermann, Eugen. (2015). Landschaften der Seele oder Wie man die Angst überwindet: Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. Patmos Verlag.

Terra X Dokumentation. (Abrufdatum: 23.1.2024). Magie der Märchen – Hänsel und Gretel auf der Spur. Verfügbar bis 11.10.2030. URL: https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/magie-der-maerchen-haensel-und-gretel-auf-der-spur-100.html

Mehr für die Märchenstunde:

Psychologie trifft Märchen: Es ist wirklich wahr

In Hans Christian Andersens Märchen „Es ist wirklich wahr“ wird eine faszinierende Geschichte über Kommunikation, Gerüchte und die Macht der Medien erzählt. Alles beginnt mit einem unschuldigen Kommentar eines Huhns, das eine Feder verliert. Doch dieser Satz löst eine Lawine von Missverständnissen aus, als die anderen Tiere die Nachricht weiterverbreiten. Mit jedem weiteren Erzählen wird die Geschichte verzerrt und verändert, bis sie schließlich in der Zeitung landet.

Das Märchen:

„Das ist ja eine schreckliche Geschichte“, sagte ein Huhn, und zwar an dem Ende des Dorfes, wo die Geschichte nicht passiert war. „Das ist ja eine schreckliche Geschichte im Hühnerhaus. Ich getraue mich gar nicht, heute Nacht allein zu schlafen! Es ist nur gut, dass wir so viele im Stalle sind“ – Und dann erzählte es, dass sich den anderen Hühnern die Federn sträubten und der Hahn den Kamm sinken ließ. Es ist wirklich wahr.

Aber wir wollen von Anfang anfangen, und der war am anderen Ende des Dorfes in einem Hühnerhaus. Die Sonne ging unter und die Hühner flogen auf. Eins von ihnen, es war weiß gefiedert und kurzbeinig, legte seine vorgeschriebene Anzahl Eier und war, als Huhn, in jeder Weise respektabel. Als es die Leiter hinaufstieg, krause es sich mit dem Schnabel, und dabei fiel ihm eine kleine Feder aus.

„Hin ist hin!“, sagte es. „Je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!“ Das war scherzhaft hin gesprochen; denn es war das lustigste unter den Hühnern, im Übrigen war es, wie gesagt, sehr respektabel; und dann schlief es ein.

Ringsum war es dunkel, Huhn an Huhn saß auf der Stange; aber das, was am nächsten dabei gesessen hatte, schlief noch nicht. Es hörte halb, halb hörte es nicht, wie man es ja in dieser Welt handhaben soll, um seine Gemütsruhe zu bewahren. Aber seiner anderen Nachbarin musste es doch noch schnell zuflüstern: „Hast Du gehört, was hier gesprochen worden ist? Ich nenne keinen Namen, aber es gibt hier ein Huhn, das sich rupfen will, um schön auszusehen! Wenn ich ein Hahn wäre, würde ich es verachten.“

Gerade gegenüber den Hühnern saß die Eule mit ihrem Eulenmann und den Eulenkindern; in dieser Familie hat man scharfe Ohren, sie hörten jedes Wort, was das Nachbarhuhn sagte. Und sie rollten mit den Augen und die Eulenmutter fächelte sich mit den Flügeln: „Hört nur nicht hin! Aber Ihr habt es wohl doch gehört, was dort drüben gesprochen wurde? Ich hörte es mit meinen eigenen Ohren, und man hört ja viel, ehe sie abfallen! Da ist eins unter den Hühnern, was in einem solchen Grade vergessen hat, was sich für ein Huhn schickt, dass es sitzt und sich alle Federn vom Leibe zupft und es den Hahn mit ansehen lässt!“

„Prenez garde aux enfants!“, sagte der Eulenvater, „das ist nichts für die Kinder.“

„Ich will es doch der Nachbareule erzählen! Das ist eine so ehrenwerte Eule im Umgang!“ damit flog die Mutter fort.

„Hu-Hu! uhuh!“ tuteten die beiden gerade in den gegenüberliegenden Taubenschlag zu den Tauben hinein. „Habt Ihr schon gehört? uhuh! Da ist ein Huhn, daß sich alle Federn ausgerupft hat wegen des Hahns. Es wird totfrieren, wenn es nicht schon tot ist, uhuh!“ „Wo? Wo?“ kurrten die Tauben.

„Im Nachbarhofe! Ich habe es so gut wie selbst gesehen. Es ist zwar eine etwas unanständige Geschichte, aber es ist wirklich wahr!“

„Glaubt nur, glaubt nur jedes einzige Wort“ sagten die Tauben und kurrten zu ihrem Hühnerstall hinab: „Da ist ein Huhn, ja, einige sagen sogar, es seien zwei, die sich alle Federn ausgerupft haben, um nicht wie die anderen auszusehen und dadurch die Aufmerksamkeit des Hahns zu erregen. Das ist ein gewagtes Spiel, man kann sich dabei erkälten und am Fieber sterben, nun sind sie beide tot!“

„Wacht auf! Wacht auf! krähte der Hahn und flog auf den Zaun. Der Schlaf saß ihm noch in den Augen, aber er krähte trotzdem: „Es sind drei Hühner aus unglücklicher Liebe zu einem Hahn gestorben! Sie haben sich alle Federn ausgerupft! Das ist eine häßliche Geschichte, ich will sie nicht für mich behalten, laßt sie weitergehen!“

„Laßt sie weitergehen!“ pfiffen die Fledermäuse, und die Hühner kluckten und der Hahn krähte: „Laßt sie weitergehen! Laßt sie weitergehen!“ Und so eilte die Geschichte von Hühnerhaus zu Hühnerhaus und endete zuletzt bei der Stelle, von wo sie ausgegangen war.

„Da sind fünf Hühner,“ hieß es, „die sich alle die Federn ausgerupft haben, um zu zeigen, welches von ihnen am magersten vor Liebeskummer um den Hahn geworden wäre, und sie hackten auf einander los, bis das Blut floß und fielen tot zur Erde, ihrer Familie zu Schimpf und Schande und dem Besitzer zu großem Verlust.“

Das Huhn, das die lose, kleine Feder verloren hatte, erkannte sich natürlich in der Geschichte nicht wieder, und da es ein respektables Huhn war, sagte es: „Diese Hühner verachte ich. Aber es gibt mehr von dieser Art. So etwas soll man nicht vertuschen, ich will jedenfalls das meinige dazu tun, daß die Geschichte in die Zeitung kommt, dann geht sie durch das ganze Land, das haben die Hühner verdient und die Familie auch!“

Und es kam in die Zeitung und wurde gedruckt und es ist wirklich wahr: Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden!

Die Charaktere:

In Andersens Märchen erscheinen verschiedene Tiere als Protagonisten. Die Geschichte nimmt ihren Ausgang mit einem Huhn, dem eine Feder ausfällt. Sein Kommentar „Hin ist hin! Je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!“ bringt alles ins Laufen.

Die anderen Hühner, die Eulen und die Tauben tratschen das Gehörte munter weiter und während sich die Geschichte immer mehr verändert, landet sie wieder bei ihrem Ursprung.

Bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, erkennt das Huhn sich selbst nicht wieder und sorgt dafür, dass die Geschichte in die Zeitung kommt. Es stellt die braven Bürger dar, die ohne zu überprüfen, vermeintliches Unrecht damit bestrafen wollen, dass alle es erfahren.

Der Satz „Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden!“ wurde im Laufe der Zeit zu einem bekannten dänischen Sprichwort und mahnt nicht einfach Klatsch und Tratsch zu glauben, sondern sich kritisch damit auseinanderzusetzen.

Sozialpsychologische Phänomene:

Psychologie der Kommunikation

Nicht immer sagen Menschen, was sie meinen. Wie oft hören sie, was sie wollen. Kommunikation ist nicht nur Informationsaustausch. Um sich verständlich auszudrücken und selbst verstehen zu können kommt es auch darauf an, wie wir etwas sagen und in welchem Kontext. Wir kommunizieren nicht nur verbal, sondern auch nonverbal.

Kommunikation ist der Prozess des Austauschs von Informationen, Gedanken, Ideen, Gefühlen oder Botschaften zwischen Individuen. Sie dient dazu, Absichten auszudrücken, Informationen zu teilen, Emotionen zu vermitteln oder soziale Beziehungen zu gestalten. Effektive Kommunikation erfordert, dass die Botschaften einer Person von anderen verstanden werden.

Im Märchen gibt es zwei Intentionen, die das zweite Huhn mit der Veränderung der ursprünglichen Aussage möglicherweise verfolgt. Entweder handelt es sich um eine Falschaussage und es möchte Huhn Nr. 1 schlecht dastehen lassen sowie sich selbst ins Licht der Aufmerksamkeit rücken. Oder es hat einfach nicht verstanden, was das Huhn sagen wollte und war sich nicht bewusst, dass es eine Unwahrheit weiterverbreitete. Beiden Phänomenen begegnet man im Flurfunk genauso wie beim Verbreiten von Nachrichten in sozialen Medien. Wie im Märchen werden solche Postings aufgrund ihres informellen Charakters weiterverbreitet (auch wenn sie einer Halbwahrheit oder einer Falschaussage entsprechen.

Nach dem Vier-Ohren-Kommunikationsmodell von Schulz von Thun ist es sinnvoll, Nachrichten auf vier Ebenen zu betrachten: dem Sachinhalt, der Selbstoffenbarung, der Beziehungsaussage und dem Appell. Problematisch wird die Kommunikation, wenn beide Partner sich auf unterschiedlichen Ebenen zu verständigen suchen. Etwa, wenn der Beifahrer auf der Sachebene meint: „Die Ampel ist rot“ und der Fahrer sich angepatzt fühlt, weil er dem die Bedeutung beimisst: „Du bist ein schlechter Autofahrer. Ich trau dir nicht. Pass auf.“

Im Falle unseres Huhnes führte das wohl dazu, dass aus einem ausgefallenen Federchen ein gerupftes Huhn wurde, dass sich für den Hahn herausputzen wollte.

Ein gemeinsames Verständnis ist die Grundlage für gelingende Kommunikation. Es mag sein, dass Andersen mit der Wahl der unterschiedlichen Tierfamilien auf besondere Schwierigkeiten zwischen unterschiedlichen Kulturen hinweist, bei denen durch unterschiedliche Ansichten ein gemeinsames Verständnis erschwert ist.

Bestimmt kennen Sie das „Stille Post“ Phänomen. Jemand erzählt Person Nr. 1 eine kurze Geschichte. Person Nr. 1 soll nun so gut wie möglich genau diese Geschichte, Person Nr. 2 erzählen. Und so weiter. Nach etwa sechs bis sieben Nacherzählungen ist die Geschichte gewöhnlich so verzerrt, dass sie kaum mehr wiederzuerkennen ist.

Die Hypothesentheorie der Wahrnehmung geht davon aus, dass wir im Zuge von Wahrnehmungsprozessen von vergangenen Erfahrungen ausgehen und diese Hypothesen, was geschehen wird, mit Informationen aus der Umwelt abgleichen. So konstruiert sich jeder seine eigene Realität oder seine eigene Wahrheit, was naturgemäß zu Konflikten führt.

Was kann man tun?

Wenn man diese Grundlagen der Kommunikation kennt und durchschaut, kann man Missverständnissen vorbeugen. Aufmerksames Zuhören und Rückfragen, ob man das Gehörte auch richtig verstanden hat, sind einfache Mittel, um die Kommunikation zu  verbessern. Eine gute Übungsmöglichkeit ist das Pflegen von Dialogen.

Soziale Neugier oder Klatsch und Tratsch?

Klatsch und Tratsch ziehen sich durch die Geschichte. So sollen schon zu Beginn des Spracherwerbs Informationen, wer mit wem kann, interessanter gewesen sein, als wo die besten Blaubeeren zu finden sind. Analog zur Fellpflege der Affen soll Klatsch den sozialen Zusammenhalt fördern.

Soziale Neugier hingegen ist das Bedürfnis nach neuen Informationen über andere und entspringt dem Bedürfnis, sich Wissen anzueignen, um Beziehungen zu gestalten und Netzwerke aufzubauen. Klatsch und Tratsch ist das Reden über Personen, die nicht anwesend sind und dient der Unterhaltung. Dementsprechend wird soziale Neugier positiv konnotiert, Klatsch hingegen nicht.

Besonders in Gruppen wird über andere gelästert, um gefühlt den eigenen Selbstwert sowie die Verbundenheit in der Gemeinschaft zu stärken. Durch das Lästern über unbekannte Personen können auch Gruppennormen, Erlaubtes und Verbotenes erkundet und gefestigt werden. Nicht zuletzt ist Tratschen auch ein Machtinstrument. Indem man Informationen (sowohl wahre als auch falsche, Hauptsache brisante) verbreitet. Das Motiv kann einerseits in Ärger oder Aggression begründet sein, aber auch in Angst. Mobbing hat jedoch nicht nur für Betroffene, sondern auch für den Tratschenden negative Auswirkungen. Über kurz oder lang wird die Ohnmacht hinter diesem Verhalten wahrgenommen und die Sympathie für diese Person sinkt.

Fragen zu Selbstreflexion:

Wann haben Sie zum letzten Mal getrascht?
Ging es dabei darum, sich zu amüsieren?
Wollten sie die Bindung zum Zuhörer stärken und die Gewissheit, dass das Verhalten eines anderen falsch war?
Oder wollten Sie Ihren Ärger loswerden und vielleicht sogar jemandem schaden?
Wann haben Sie zum letzten Mal ein Gerücht in Umlauf gebracht oder weiterverbreitet?

Die Medien und unser Weltbild

Das Märchen endet damit, dass die haarsträubende Geschichte in der Zeitung gedruckt wird. Andersens Aufforderung ist es, nicht alles zu glauben, was in der Zeitung steht.

Nichtsdestotrotz ist das Thema auch zweihundert Jahre später heiß umstritten. 2014 wurde „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres gekürt. Und obwohl jeder weiß, dass nicht alles stimmt, was in der Zeitung steht, könnte man eine pauschale Diffamierung auch als Gefahr für die Pressefreiheit sehen.

Die Verzerrung der Medieninhalte geht eindeutig in Richtung Schreckensnachrichten. So wird wesentlich häufiger über Krieg, Naturkatastrophen und Gewalttaten berichtet als über positive Ereignisse. Auch im Märchen ist die Geschichte erst „reif für die Presse“, nachdem angeblich 5 Hühner gestorben waren. Das mag einerseits daran liegen, dass Journalisten das produzieren, was bevorzugt gelesen wird, aber andererseits beeinflussen diese negativen Nachrichten auch wieder unser Weltbild.

Übung:

Beobachten Sie in den nächsten Tagen Ihren Medienkonsum: 

Welche Nachrichten verbreiten Sie über die sozialen Medien weiter - eher positive oder negative? Welche Artikel lesen Sie aufmerksam bis zum Schluss und welche überfliegen Sie eher?

Es besteht begründete Hoffnung, dass die Welt nicht ganz so schlimm ist, wie sie in den Medien dargestellt wird. Umso wichtiger ist es, seine Medienkompetenz zu überprüfen und zu schulen.

Im Märchen „Es ist wirklich wahr“ werden zeitgemäße gesellschaftskritische Themen behandelt, wie das Verhalten in der Kommunikation, die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten, soziale Neugier und Klatsch sowie die Art und Weise, wie die Berichterstattung in den Medien unser Weltbild beeinflusst. Hans Christian Andersen vermittelte eine klare und aktuell relevante Botschaft. Doch die entscheidende Frage ist, was nehmen Sie persönlich aus diesem Märchen mit?

Literatur:

Andersen, H. C. (2004). Das Andersen Märchenbuch. Betz Verlag.

Frey, D. (Ed.). (2017). Psychologie der Märchen. Springer Verlag.

Kapferer, J. N. (1997). Gerüchte: Das älteste Massenmedium der Welt. Aufbau.

Lilli, W., & Frey, D. (1993). Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung. In D. Frey & M. Irle (Eds.), Theorien der Sozialpsychologie – Band I: Kognitive Theorien. Huber.

Schulz von Thun, F. (1981). Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen. Rowohlt.

Harari, Y. N. (2013). Eine kurze Geschichte der Menschheit. Deutsche Verlags-Anstalt.


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