Psychologie trifft Märchen: Hänsel und Gretel

Das Märchen von Hänsel und Gretel der Brüder Grimm erzählt die Geschichte von zwei Geschwistern, die von ihren Eltern ausgesetzt werden. In der Geschichte wird gelogen, dass sich die Balken biegen, aber sie erzählt auch von Optimismus, erlernter Hilflosigkeit, Konformität und Gehorsam – und ist damit aktuell wie eh und je.

Hänsel und Gretel

Das Märchen


Die Charaktere

Hänsel und Gretel wachsen geplagt von Armut auf. Hänsel kümmert sich um seine Schwester, ist vorausschauend und zuversichtlich. Gretel hingegen ist zurückhaltend, ängstlich und verlässt sich auf den Bruder. Als sich die Situation zuspitzt und die Hexe beider Leben bedroht, wendet sich das Blatt und Gretel findet den Mut, sich selbst und Hänsel zu retten.

Der Vater möchte seine Kinder eigentlich nicht im Wald aussetzen. Auf das Drängen seiner Frau hin, lässt er sich jedoch zu der schrecklichen Tat überreden und er verrät die Kinder feige. Trotzdem ist er froh, als sie zu guter Letzt heil zurückkehren.

Die Mutter zeigt keinerlei Mitgefühl oder Zuneigung. Um den eigenen Hunger zu stillen, drängt sie ihren Mann die Kinder loszuwerden und zu opfern. Sie stirbt jedoch trotzdem.

Die Hexe tief im Wald lockt Kinder mit dem köstlichen Lebkuchenhaus in die Falle um sie zu verspeisen. Ihr Ansinnen klappt jedoch nicht, denn sie selbst wird von Gretel überlistet und verbrennt im Backofen, in dem sie die beiden garen wollte.

So lassen beide Frauen, die die Kinder töten wollen, am Ende ihr Leben. Die weiblichen Charaktere im Märchen kommen ohnehin schlecht weg. Sowohl die Mutter als auch die Hexe sind böse und auch Gretel wird zunächst schwach und hilflos dargestellt.

Sozialpsychologische Phänomene

Lügen:

Die Mutter gab als Grund für den Ausflug in den Wald an, Holz zu sammeln, doch in Wahrheit hatte sie die Absicht, die Kinder dort allein zurückzulassen. Wenn wir das Märchen gezielt auf Lügen untersuchen, erkennen wir, dass sie ein durchgängiges Element der Handlung sind. Sowohl die Mutter als auch der Vater verbergen Wahrheiten vor den Kindern. Hänsel täuscht die Hexe, indem er ihr ein Knöchlein anstelle seines Fingers zeigt, und möglicherweise auch, als er Gretel versichert, den Weg finden zu können, obwohl die Vögel das Brot gefressen haben. Es stellt sich die Frage, ob er sich selbst belügt, um ruhig zu bleiben. Selbst die Hexe täuscht die Kinder, um sie zu fangen, und schließlich lügt sogar Gretel, als sie vorgibt, nicht zu wissen, was zu tun ist.

Betrachten wir diese Lügen und ihre Auswirkungen auf unsere emotionalen Reaktionen. Die meisten von uns verurteilen wahrscheinlich die Lügen der Mutter und der Hexe sowie das Schweigen des Vaters. Hänsels Lügen, um sich und seine Schwester zu retten, könnten die meisten von uns moralisch vertretbar finden. Dies verdeutlicht, wie unterschiedlich wir Lügen bewerten, abhängig von den Motiven dahinter. Höflichkeit, Notwendigkeit oder persönliche Vorteile können Gründe sein, warum jemand von der Wahrheit abweicht. Die Abgrenzung zwischen Lüge und Zurückhaltung von Informationen ist nicht immer eindeutig.

Warum haben sich Lügen und Täuschungen im Laufe der Evolution, sowohl beim Menschen als auch bei vielen Tierarten, etabliert, obwohl sie negativ bewertet werden und die Gefahr besteht, entlarvt zu werden? Forscher haben vorgeschlagen, dass Lügen als „sozialer Klebstoff“ fungieren könnten, der dazu beiträgt, Gruppen zusammenzuhalten. Diese Lügen dienen nicht egoistischen Motiven, sondern eher dem Wohlbefinden der Gruppe. Es ist plausibel anzunehmen, dass dieses Verhalten den Menschen in der Evolution einen Vorteil verschafft hat. Allerdings zeigt die Simulation auch, dass chronische Lügner sozial isoliert werden. Wie das Sprichwort sagt: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht.“

Die Botschaft des Märchens ist nicht, dass Lügen immer schlecht sind und vermieden werden sollten. Hänsel und Gretel hätten ohne ihre Notlügen im Wald sterben können. Vielmehr sollte uns die Geschichte dazu anregen, über Lügen nachzudenken:

  • Ist es moralisch vertretbar, zu lügen, um ein ehrenwertes Ziel zu erreichen?
  • Was bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn wir ständig mit Lügen rechnen müssen?
  • Ist Verschweigen eine Form der Lüge?
  • Welche Auswirkungen hat es, wenn wir uns selbst belügen, um eine Situation positiver darzustellen?

Optimismus:

Trotz der schwierigen Situation, die durch den Egoismus ihrer Mutter entstanden ist, bewahrt Hänsel stets eine optimistische Einstellung. Er tröstet Gretel immer wieder und bleibt zuversichtlich, dass sie die Situation überwinden können, selbst als er bemerkt, dass die Vögel seine Wegmarkierung gefressen haben.

Ein bekanntes Beispiel für den Unterschied zwischen Optimismus und Pessimismus ist die Betrachtung eines halb vollen oder halb leeren Glases. Während der Optimist die positiven Aspekte und Chancen erkennt, neigt der Pessimist dazu, Probleme und Nachteile zu sehen. Die Neigung zum Optimismus oder Pessimismus kann je nach Situation variieren. Wenn Menschen jedoch grundsätzlich eine positive Grundhaltung in ihrer Wahrnehmung, Erinnerung, in ihren Erwartungen und Denkmustern haben, spricht man von Positivität.

Die Fähigkeit, die Welt positiv wahrzunehmen, ist ein wichtiger Faktor im Umgang mit Rückschlägen. Dennoch ist es nicht immer förderlich, uneingeschränkt an das Gute zu glauben. Trotz Optimismus sollten wir realistisch bleiben. Denn wer zu naiv durch die Welt geht, wird immer wieder vermeidbare Rückschläge und Enttäuschungen erleben. Die Fähigkeit des realistischen Optimismus ist ein wichtiger Faktor für Resilienz.

Im Märchen bewahrt Hänsel einen realistischen Optimismus im Rahmen seiner Möglichkeiten, um sich und seine Schwester zu retten. Wenn Hänsel ein Pessimist gewesen wäre, hätte er vermutlich resigniert, anstatt Trost und Hoffnung zu spenden. Seine vorübergehende Hoffnungslosigkeit, als die Hexe ihn in den Stall sperrt, wird durch die Kreativität und den Optimismus von Gretel überwunden, die die Hexe schließlich besiegt.

Realistischer Optimismus hilft uns maßgeblich dabei, voranzukommen und uns weiterzuentwickeln. Jedes Kind, das laufen lernt, fällt viele Male, bevor es erfolgreich ist, und zeigt damit eine hohe Resilienz. Diese ermöglicht es ihm, nach jedem Sturz wieder aufzustehen und fest daran zu glauben, dass es bald klappen wird. Wenn wir uns hoffnungslos fühlen, können wir uns vornehmen, wie ein Kind, das gerade die ersten Schritte macht, mit realistischem Optimismus die Herausforderung anzunehmen.

Erlernte Hilflosigkeit:

Am Anfang der Geschichte ergreift Hänsel aktiv die Initiative und übernimmt die Verantwortung für das Schicksal der Geschwister. Er versucht mit Kieselsteinen und Brotkrumen den Weg zurück nach Hause zu markieren, um sich und Gretel zu retten. Im Gegensatz dazu zeigt Gretel anfangs ein passives Verhalten. Bei Rückschlägen reagiert sie mit bitterlichem Weinen und Verzweiflung. Sie glaubt nicht daran, dass sie die Situation verändern kann, und akzeptiert ihr Schicksal.

Dieses Verhalten wird auch als erlernte Hilflosigkeit bezeichnet. Dabei handelt es sich um die feste Überzeugung einer Person, dass sie eine unangenehme Situation nicht ändern kann, selbst wenn dies objektiv betrachtet nicht der Fall ist. Diese Einstellung kann zu Passivität führen, bei der man sich widerstandslos seinem Schicksal ergibt. Die eigene Selbstwirksamkeitserwartung, also die Erwartung, durch eigenes Handeln Einfluss nehmen zu können, wird durch die erlernte Hilflosigkeit stark geschwächt.

Gretel hat höchstwahrscheinlich die erlernte Hilflosigkeit durch eine Reihe negativer Lernerfahrungen entwickelt. Erst als Hänsel von der Hexe gefangen genommen wird, überwindet sie ihre Hilflosigkeit, um sich und ihren Bruder vor dem Tod zu retten. Sie stößt die Hexe in den Backofen und befreit Hänsel. Dabei macht Gretel eine korrigierende Lernerfahrung: Sie erkennt, dass ihr mutiges Handeln etwas bewirkt und sie Kontrolle über die Situation hat. Im Verlauf des Märchens entwickelt sich Gretel immer mehr zu einer aktiv handelnden Heldin.

Erlernte Hilflosigkeit kann zu Passivität, Verzweiflung und depressiven Symptomen führen. Um aus der Opferrolle auszubrechen, musste Gretel ihre eigene Selbstwirksamkeit erfahren. Auch für die gesunde Entwicklung von Kindern ist das Erleben von Selbstwirksamkeit äußerst wichtig. Bereits von Geburt an lernen Kinder durch das Ausprobieren verschiedener Verhaltensweisen, dass ihr Handeln Auswirkungen auf ihre Umwelt und das Verhalten anderer Menschen hat. Dabei sind Herausforderungen auf unbekanntem Terrain besonders wichtig, um die Selbstwirksamkeit zu stärken.

Auch im Bereich der Mitarbeiterführung sind Selbstwirksamkeit und wahrgenommene Kontrolle von großer Bedeutung für die Mitarbeiter. Gute Führungskräfte wissen, wie wichtig es ist, ihren Mitarbeitern das Gefühl zu vermitteln, dass sie etwas bewirken können und nicht den äußeren Einflüssen hilflos ausgeliefert sind. Schon allein das Zuhören bei einem Problem kann dazu beitragen, dass Mitarbeiter mehr Kontrolle über die Situation wahrnehmen und zufriedener sind.

Konformität und Gehorsam:

Im Märchen lässt sich der Vater aufgrund des Drucks seiner Frau überreden, die Kinder auszusetzen, obwohl er dies eigentlich nicht möchte. Diese Konformität führt zu einem Handeln gegen seine eigenen Prinzipien, was das Leben seiner Kinder gefährdet. Warum wehrt sich der Vater nicht gegen diesen Zwang und handelt entgegen seinem eigenen Willen?

Das bekannte Milgram-Experiment illustrierte, dass Menschen oft widerwillig und gegen ihr Gewissen handeln, wenn sie unter Druck gesetzt werden. In diesem Experiment wurden die Teilnehmer angeleitet, einer anderen Person in einem anderen Raum elektrische Schocks zu geben, wenn diese bei einer Lernaufgabe Fehler machte. Obwohl die Schmerzensäußerungen zu hören waren, wurden die Teilnehmer dazu gedrängt, weiterzumachen, auch wenn es ihnen schwerfiel. Die Ergebnisse zeigten, dass Personen unter dem Einfluss von Autorität dazu neigen können, anderen Schaden zuzufügen, selbst wenn es gegen ihre moralischen Überzeugungen verstößt.

Diese Art von Gehorsam kann durch verschiedene Faktoren erklärt werden. Zum einen durch den normativen sozialen Einfluss, bei dem Menschen ihr Verhalten an die Erwartungen anderer anpassen, um akzeptiert zu werden. Zum anderen durch den informationalen sozialen Einfluss, bei dem Menschen sich in stressigen Situationen auf die Anweisungen von vermeintlichen „Experten“ verlassen. Außerdem kann die Abgabe der persönlichen Verantwortung eine Rolle spielen, wenn Menschen sich hinter der Autorität einer anderen Person verstecken und so ihre eigene Verantwortung abschieben.

Gehorsam an sich ist ein wichtiger Wert ist, der ein geordnetes Zusammenleben ermöglicht. Doch wenn dieser Gehorsam dazu führt, dass die Würde anderer verletzt wird, wie im Märchen und und verschiedenen Experimenten dargestellt, wird er problematisch. Die Kenntnis über Faktoren wie normativen und informationalen sozialen Einfluss kann helfen, unser eigenes Handeln kritisch zu hinterfragen und uns gegen unethische Anweisungen zu wehren.

Um Menschenrechtsverletzungen durch blinden Gehorsam zu verhindern, ist Zivilcourage nötig. Zivilcourage bedeutet, mutig für die Einhaltung ethischer Normen einzutreten, auch wenn dies persönliche Kosten mit sich bringt. Es ermutigt dazu, sich gegen blinden Gehorsam zu wehren und für die Rechte anderer einzustehen.

Fazit:

Die Ereignisse in der Geschichte von Hänsel und Gretel verdeutlichen, dass dieses Märchen auch heute noch Relevanz besitzt. Themen wie Lügen, Optimismus, erlernte Hilflosigkeit und blinder Gehorsam prägen weiterhin unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Folgende Fragen, die offen bleiben, mögen Ansatzpunkte für weitere Analysen sein:

  1. Warum handeln die Eltern entgegen ihrer elterlichen Fürsorge?
  2. Warum kehren Hänsel und Gretel zu ihrem Elternhaus zurück, obwohl sie es verlassen mussten? Ist es Vergebung oder vielleicht (emotionale) Abhängigkeit, die sie zurückführt?

Literatur

Frey, D. (Ed.). (2017). Psychologie der Märchen. Springer Verlag.

Drewermann, Eugen. (2015). Landschaften der Seele oder Wie man die Angst überwindet: Grimms Märchen tiefenpsychologisch gedeutet. Patmos Verlag.

Terra X Dokumentation. (Abrufdatum: 23.1.2024). Magie der Märchen – Hänsel und Gretel auf der Spur. Verfügbar bis 11.10.2030. URL: https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/magie-der-maerchen-haensel-und-gretel-auf-der-spur-100.html

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