Psychologie trifft Märchen: Es ist wirklich wahr

In Hans Christian Andersens Märchen „Es ist wirklich wahr“ wird eine faszinierende Geschichte über Kommunikation, Gerüchte und die Macht der Medien erzählt. Alles beginnt mit einem unschuldigen Kommentar eines Huhns, das eine Feder verliert. Doch dieser Satz löst eine Lawine von Missverständnissen aus, als die anderen Tiere die Nachricht weiterverbreiten. Mit jedem weiteren Erzählen wird die Geschichte verzerrt und verändert, bis sie schließlich in der Zeitung landet.

Das Märchen:

„Das ist ja eine schreckliche Geschichte“, sagte ein Huhn, und zwar an dem Ende des Dorfes, wo die Geschichte nicht passiert war. „Das ist ja eine schreckliche Geschichte im Hühnerhaus. Ich getraue mich gar nicht, heute Nacht allein zu schlafen! Es ist nur gut, dass wir so viele im Stalle sind“ – Und dann erzählte es, dass sich den anderen Hühnern die Federn sträubten und der Hahn den Kamm sinken ließ. Es ist wirklich wahr.

Aber wir wollen von Anfang anfangen, und der war am anderen Ende des Dorfes in einem Hühnerhaus. Die Sonne ging unter und die Hühner flogen auf. Eins von ihnen, es war weiß gefiedert und kurzbeinig, legte seine vorgeschriebene Anzahl Eier und war, als Huhn, in jeder Weise respektabel. Als es die Leiter hinaufstieg, krause es sich mit dem Schnabel, und dabei fiel ihm eine kleine Feder aus.

„Hin ist hin!“, sagte es. „Je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!“ Das war scherzhaft hin gesprochen; denn es war das lustigste unter den Hühnern, im Übrigen war es, wie gesagt, sehr respektabel; und dann schlief es ein.

Ringsum war es dunkel, Huhn an Huhn saß auf der Stange; aber das, was am nächsten dabei gesessen hatte, schlief noch nicht. Es hörte halb, halb hörte es nicht, wie man es ja in dieser Welt handhaben soll, um seine Gemütsruhe zu bewahren. Aber seiner anderen Nachbarin musste es doch noch schnell zuflüstern: „Hast Du gehört, was hier gesprochen worden ist? Ich nenne keinen Namen, aber es gibt hier ein Huhn, das sich rupfen will, um schön auszusehen! Wenn ich ein Hahn wäre, würde ich es verachten.“

Gerade gegenüber den Hühnern saß die Eule mit ihrem Eulenmann und den Eulenkindern; in dieser Familie hat man scharfe Ohren, sie hörten jedes Wort, was das Nachbarhuhn sagte. Und sie rollten mit den Augen und die Eulenmutter fächelte sich mit den Flügeln: „Hört nur nicht hin! Aber Ihr habt es wohl doch gehört, was dort drüben gesprochen wurde? Ich hörte es mit meinen eigenen Ohren, und man hört ja viel, ehe sie abfallen! Da ist eins unter den Hühnern, was in einem solchen Grade vergessen hat, was sich für ein Huhn schickt, dass es sitzt und sich alle Federn vom Leibe zupft und es den Hahn mit ansehen lässt!“

„Prenez garde aux enfants!“, sagte der Eulenvater, „das ist nichts für die Kinder.“

„Ich will es doch der Nachbareule erzählen! Das ist eine so ehrenwerte Eule im Umgang!“ damit flog die Mutter fort.

„Hu-Hu! uhuh!“ tuteten die beiden gerade in den gegenüberliegenden Taubenschlag zu den Tauben hinein. „Habt Ihr schon gehört? uhuh! Da ist ein Huhn, daß sich alle Federn ausgerupft hat wegen des Hahns. Es wird totfrieren, wenn es nicht schon tot ist, uhuh!“ „Wo? Wo?“ kurrten die Tauben.

„Im Nachbarhofe! Ich habe es so gut wie selbst gesehen. Es ist zwar eine etwas unanständige Geschichte, aber es ist wirklich wahr!“

„Glaubt nur, glaubt nur jedes einzige Wort“ sagten die Tauben und kurrten zu ihrem Hühnerstall hinab: „Da ist ein Huhn, ja, einige sagen sogar, es seien zwei, die sich alle Federn ausgerupft haben, um nicht wie die anderen auszusehen und dadurch die Aufmerksamkeit des Hahns zu erregen. Das ist ein gewagtes Spiel, man kann sich dabei erkälten und am Fieber sterben, nun sind sie beide tot!“

„Wacht auf! Wacht auf! krähte der Hahn und flog auf den Zaun. Der Schlaf saß ihm noch in den Augen, aber er krähte trotzdem: „Es sind drei Hühner aus unglücklicher Liebe zu einem Hahn gestorben! Sie haben sich alle Federn ausgerupft! Das ist eine häßliche Geschichte, ich will sie nicht für mich behalten, laßt sie weitergehen!“

„Laßt sie weitergehen!“ pfiffen die Fledermäuse, und die Hühner kluckten und der Hahn krähte: „Laßt sie weitergehen! Laßt sie weitergehen!“ Und so eilte die Geschichte von Hühnerhaus zu Hühnerhaus und endete zuletzt bei der Stelle, von wo sie ausgegangen war.

„Da sind fünf Hühner,“ hieß es, „die sich alle die Federn ausgerupft haben, um zu zeigen, welches von ihnen am magersten vor Liebeskummer um den Hahn geworden wäre, und sie hackten auf einander los, bis das Blut floß und fielen tot zur Erde, ihrer Familie zu Schimpf und Schande und dem Besitzer zu großem Verlust.“

Das Huhn, das die lose, kleine Feder verloren hatte, erkannte sich natürlich in der Geschichte nicht wieder, und da es ein respektables Huhn war, sagte es: „Diese Hühner verachte ich. Aber es gibt mehr von dieser Art. So etwas soll man nicht vertuschen, ich will jedenfalls das meinige dazu tun, daß die Geschichte in die Zeitung kommt, dann geht sie durch das ganze Land, das haben die Hühner verdient und die Familie auch!“

Und es kam in die Zeitung und wurde gedruckt und es ist wirklich wahr: Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden!

Die Charaktere:

In Andersens Märchen erscheinen verschiedene Tiere als Protagonisten. Die Geschichte nimmt ihren Ausgang mit einem Huhn, dem eine Feder ausfällt. Sein Kommentar „Hin ist hin! Je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!“ bringt alles ins Laufen.

Die anderen Hühner, die Eulen und die Tauben tratschen das Gehörte munter weiter und während sich die Geschichte immer mehr verändert, landet sie wieder bei ihrem Ursprung.

Bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, erkennt das Huhn sich selbst nicht wieder und sorgt dafür, dass die Geschichte in die Zeitung kommt. Es stellt die braven Bürger dar, die ohne zu überprüfen, vermeintliches Unrecht damit bestrafen wollen, dass alle es erfahren.

Der Satz „Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden!“ wurde im Laufe der Zeit zu einem bekannten dänischen Sprichwort und mahnt nicht einfach Klatsch und Tratsch zu glauben, sondern sich kritisch damit auseinanderzusetzen.

Sozialpsychologische Phänomene:

Psychologie der Kommunikation

Nicht immer sagen Menschen, was sie meinen. Wie oft hören sie, was sie wollen. Kommunikation ist nicht nur Informationsaustausch. Um sich verständlich auszudrücken und selbst verstehen zu können kommt es auch darauf an, wie wir etwas sagen und in welchem Kontext. Wir kommunizieren nicht nur verbal, sondern auch nonverbal.

Kommunikation ist der Prozess des Austauschs von Informationen, Gedanken, Ideen, Gefühlen oder Botschaften zwischen Individuen. Sie dient dazu, Absichten auszudrücken, Informationen zu teilen, Emotionen zu vermitteln oder soziale Beziehungen zu gestalten. Effektive Kommunikation erfordert, dass die Botschaften einer Person von anderen verstanden werden.

Im Märchen gibt es zwei Intentionen, die das zweite Huhn mit der Veränderung der ursprünglichen Aussage möglicherweise verfolgt. Entweder handelt es sich um eine Falschaussage und es möchte Huhn Nr. 1 schlecht dastehen lassen sowie sich selbst ins Licht der Aufmerksamkeit rücken. Oder es hat einfach nicht verstanden, was das Huhn sagen wollte und war sich nicht bewusst, dass es eine Unwahrheit weiterverbreitete. Beiden Phänomenen begegnet man im Flurfunk genauso wie beim Verbreiten von Nachrichten in sozialen Medien. Wie im Märchen werden solche Postings aufgrund ihres informellen Charakters weiterverbreitet (auch wenn sie einer Halbwahrheit oder einer Falschaussage entsprechen.

Nach dem Vier-Ohren-Kommunikationsmodell von Schulz von Thun ist es sinnvoll, Nachrichten auf vier Ebenen zu betrachten: dem Sachinhalt, der Selbstoffenbarung, der Beziehungsaussage und dem Appell. Problematisch wird die Kommunikation, wenn beide Partner sich auf unterschiedlichen Ebenen zu verständigen suchen. Etwa, wenn der Beifahrer auf der Sachebene meint: „Die Ampel ist rot“ und der Fahrer sich angepatzt fühlt, weil er dem die Bedeutung beimisst: „Du bist ein schlechter Autofahrer. Ich trau dir nicht. Pass auf.“

Im Falle unseres Huhnes führte das wohl dazu, dass aus einem ausgefallenen Federchen ein gerupftes Huhn wurde, dass sich für den Hahn herausputzen wollte.

Ein gemeinsames Verständnis ist die Grundlage für gelingende Kommunikation. Es mag sein, dass Andersen mit der Wahl der unterschiedlichen Tierfamilien auf besondere Schwierigkeiten zwischen unterschiedlichen Kulturen hinweist, bei denen durch unterschiedliche Ansichten ein gemeinsames Verständnis erschwert ist.

Bestimmt kennen Sie das „Stille Post“ Phänomen. Jemand erzählt Person Nr. 1 eine kurze Geschichte. Person Nr. 1 soll nun so gut wie möglich genau diese Geschichte, Person Nr. 2 erzählen. Und so weiter. Nach etwa sechs bis sieben Nacherzählungen ist die Geschichte gewöhnlich so verzerrt, dass sie kaum mehr wiederzuerkennen ist.

Die Hypothesentheorie der Wahrnehmung geht davon aus, dass wir im Zuge von Wahrnehmungsprozessen von vergangenen Erfahrungen ausgehen und diese Hypothesen, was geschehen wird, mit Informationen aus der Umwelt abgleichen. So konstruiert sich jeder seine eigene Realität oder seine eigene Wahrheit, was naturgemäß zu Konflikten führt.

Was kann man tun?

Wenn man diese Grundlagen der Kommunikation kennt und durchschaut, kann man Missverständnissen vorbeugen. Aufmerksames Zuhören und Rückfragen, ob man das Gehörte auch richtig verstanden hat, sind einfache Mittel, um die Kommunikation zu  verbessern. Eine gute Übungsmöglichkeit ist das Pflegen von Dialogen.

Soziale Neugier oder Klatsch und Tratsch?

Klatsch und Tratsch ziehen sich durch die Geschichte. So sollen schon zu Beginn des Spracherwerbs Informationen, wer mit wem kann, interessanter gewesen sein, als wo die besten Blaubeeren zu finden sind. Analog zur Fellpflege der Affen soll Klatsch den sozialen Zusammenhalt fördern.

Soziale Neugier hingegen ist das Bedürfnis nach neuen Informationen über andere und entspringt dem Bedürfnis, sich Wissen anzueignen, um Beziehungen zu gestalten und Netzwerke aufzubauen. Klatsch und Tratsch ist das Reden über Personen, die nicht anwesend sind und dient der Unterhaltung. Dementsprechend wird soziale Neugier positiv konnotiert, Klatsch hingegen nicht.

Besonders in Gruppen wird über andere gelästert, um gefühlt den eigenen Selbstwert sowie die Verbundenheit in der Gemeinschaft zu stärken. Durch das Lästern über unbekannte Personen können auch Gruppennormen, Erlaubtes und Verbotenes erkundet und gefestigt werden. Nicht zuletzt ist Tratschen auch ein Machtinstrument. Indem man Informationen (sowohl wahre als auch falsche, Hauptsache brisante) verbreitet. Das Motiv kann einerseits in Ärger oder Aggression begründet sein, aber auch in Angst. Mobbing hat jedoch nicht nur für Betroffene, sondern auch für den Tratschenden negative Auswirkungen. Über kurz oder lang wird die Ohnmacht hinter diesem Verhalten wahrgenommen und die Sympathie für diese Person sinkt.

Fragen zu Selbstreflexion:

Wann haben Sie zum letzten Mal getrascht?
Ging es dabei darum, sich zu amüsieren?
Wollten sie die Bindung zum Zuhörer stärken und die Gewissheit, dass das Verhalten eines anderen falsch war?
Oder wollten Sie Ihren Ärger loswerden und vielleicht sogar jemandem schaden?
Wann haben Sie zum letzten Mal ein Gerücht in Umlauf gebracht oder weiterverbreitet?

Die Medien und unser Weltbild

Das Märchen endet damit, dass die haarsträubende Geschichte in der Zeitung gedruckt wird. Andersens Aufforderung ist es, nicht alles zu glauben, was in der Zeitung steht.

Nichtsdestotrotz ist das Thema auch zweihundert Jahre später heiß umstritten. 2014 wurde „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres gekürt. Und obwohl jeder weiß, dass nicht alles stimmt, was in der Zeitung steht, könnte man eine pauschale Diffamierung auch als Gefahr für die Pressefreiheit sehen.

Die Verzerrung der Medieninhalte geht eindeutig in Richtung Schreckensnachrichten. So wird wesentlich häufiger über Krieg, Naturkatastrophen und Gewalttaten berichtet als über positive Ereignisse. Auch im Märchen ist die Geschichte erst „reif für die Presse“, nachdem angeblich 5 Hühner gestorben waren. Das mag einerseits daran liegen, dass Journalisten das produzieren, was bevorzugt gelesen wird, aber andererseits beeinflussen diese negativen Nachrichten auch wieder unser Weltbild.

Übung:

Beobachten Sie in den nächsten Tagen Ihren Medienkonsum: 

Welche Nachrichten verbreiten Sie über die sozialen Medien weiter - eher positive oder negative? Welche Artikel lesen Sie aufmerksam bis zum Schluss und welche überfliegen Sie eher?

Es besteht begründete Hoffnung, dass die Welt nicht ganz so schlimm ist, wie sie in den Medien dargestellt wird. Umso wichtiger ist es, seine Medienkompetenz zu überprüfen und zu schulen.

Im Märchen „Es ist wirklich wahr“ werden zeitgemäße gesellschaftskritische Themen behandelt, wie das Verhalten in der Kommunikation, die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten, soziale Neugier und Klatsch sowie die Art und Weise, wie die Berichterstattung in den Medien unser Weltbild beeinflusst. Hans Christian Andersen vermittelte eine klare und aktuell relevante Botschaft. Doch die entscheidende Frage ist, was nehmen Sie persönlich aus diesem Märchen mit?

Literatur:

Andersen, H. C. (2004). Das Andersen Märchenbuch. Betz Verlag.

Frey, D. (Ed.). (2017). Psychologie der Märchen. Springer Verlag.

Kapferer, J. N. (1997). Gerüchte: Das älteste Massenmedium der Welt. Aufbau.

Lilli, W., & Frey, D. (1993). Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung. In D. Frey & M. Irle (Eds.), Theorien der Sozialpsychologie – Band I: Kognitive Theorien. Huber.

Schulz von Thun, F. (1981). Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen. Rowohlt.

Harari, Y. N. (2013). Eine kurze Geschichte der Menschheit. Deutsche Verlags-Anstalt.


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