Posttraumatisches Wachstum: gebrochen, doch auch gewachsen

Wenn wir an ein schweres Trauma denken – einen Unfall, eine schwere Krankheit, den Verlust eines geliebten Menschen oder Gewalterfahrungen – steht meist das Leid im Vordergrund. Zu Recht. Die Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist weithin bekannt und beschreibt die tiefen Narben, die solche Ereignisse hinterlassen können. Doch es gibt eine andere, weniger bekannte Seite der Medaille: das Posttraumatische Wachstum (PTW).

Posttraumatisches Wachstum nach Waldbrand

Posttraumatisches Wachstum ist nicht einfach nur Resilienz, also die Fähigkeit, sich von einem Schicksalsschlag zu erholen und wieder auf den vorherigen psychischen Stand zurückzukehren. Posttraumatisches Wachstum beschreibt etwas Phänomenaleres: die Erfahrung, dass Menschen durch den Kampf mit der Krise persönlich gestärkt hervorgehen und sich positiv verändern. Sie sind nicht nur heil, sondern in bestimmten Aspekten sogar „mehr“ als zuvor.

Was ist Posttraumatisches Wachstum?

Das Konzept wurde in den 1990er Jahren von den Psychologen Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun entwickelt. Sie fanden heraus, dass viele Trauma-Überlebende berichteten, dass ihr Leben eine tiefgreifende positive Wende genommen habe. Dieses Wachstum zeigt sich typischerweise in fünf zentralen Bereichen:

  1. Wertschätzung des Lebens: Die kleinen, alltäglichen Freuden rücken in den Fokus. Das Leben wird intensiver und bewusster gelebt. Ein Sonnenstrahl, ein Lachen, ein Gespräch – all das wird nicht mehr als selbstverständlich angesehen.
  2. Neue Möglichkeiten: Wo alte Lebensziele oder Karrierewege vielleicht unerreichbar geworden sind, entdecken Menschen neue Wege und Leidenschaften. Sie beginnen vielleicht ein neues Hobby, engagieren sich in einer Selbsthilfegruppe oder starten ein völlig neues Projekt.
  3. Stärkere zwischenmenschliche Beziehungen: Die Krise offenbart oft, wer wirklich für einen da ist. Die Beziehungen zu diesen Menschen vertiefen sich, werden authentischer und mitfühlender. Gleichzeitig wird die Trennschärfe für toxische Beziehungen größer.
  4. Persönliche Stärke: Der Umstand, das schlimmste Ereignis des eigenen Lebens überstanden zu haben, schenkt ein unerschütterliches Vertrauen in die eigene Widerstandsfähigkeit. „Wenn ich das geschafft habe, schaffe ich alles“, ist ein häufiger Gedanke.
  5. Spirituelle oder existenzielle Veränderung: Viele Menschen beginnen, über die „großen Fragen“ des Lebens nachzudenken. Ihr Wertesystem, ihr Weltbild und ihre Einstellung zum Sinn des Lebens können sich fundamental wandeln.

Wie entsteht dieses Wachstum? Der Weg durch das Erdbeben

Posttraumatisches Wachstum geschieht nicht trotz des Traumas, sondern durch die Auseinandersetzung mit ihm. Das traumatische Ereignis wirft das fundamentale Gerüst unseres Lebens über den Haufen – unsere Grundüberzeugungen, wie „Die Welt ist gerecht“ oder „Mir kann nichts passieren“. Dieses innere Chaos zwingt uns dazu, unser Weltbild Stück für Stück neu zusammenzusetzen. In diesem schmerzhaften Prozess des Infragestellens und Neubauens entstehen die neuen, oft stärkeren und authentischeren Perspektiven.

Wichtig ist: Dieser Prozess ist kein linearer Aufstieg. Er ist geprägt von Rückschlägen, intensivem Leid und Phasen der Verzweiflung. Das Wachstum ist das Ergebnis eines ringenden, oft quälenden Kampfes.

Missverständnisse und was Posttraumatisches Wachstum nicht ist

Um das Konzept richtig zu verstehen, ist es entscheidend zu wissen, was PTW nicht ist:

  • Es ist keine Verharmlosung des Traumas. Das Leid ist real und schrecklich. PTW bedeutet nicht, dass man für das Trauma dankbar sein sollte. Es beschreibt die Stärke, die im Umgang damit entstehen kann.
  • Es ist nicht dasselbe wie Resilienz. Resiliente Menschen „federn zurück“. Beim PTW geht es um eine Veränderung, eine Transformation, die über den ursprünglichen Zustand hinausgeht.
  • Es ist kein universelles Ziel. Nicht jeder, der ein Trauma erlebt, wird automatisch wachsen. Es ist einer von vielen möglichen Ausgängen. Es ist völlig in Ordnung, „einfach nur“ zu überleben und zu heilen.

Wie kann man Posttraumatisches Wachstum fördern?

Wachstum lässt sich nicht erzwingen, aber der Boden kann dafür bereitet werden. Entscheidend ist die Verarbeitung des Erlebten. Das geschieht oft durch:

  • Das Erzählen der eigenen Geschichte: Im sicheren Rahmen, z.B. in der Therapie, mit engen Freunden oder in Selbsthilfegruppen, kann das Durcharbeiten der Ereignisse gelingen.
  • Emotionale Regulation: Zu lernen, mit den überwältigenden Gefühlen von Angst, Wut und Trauer umzugehen, ist eine Grundvoraussetzung.
  • Neubewertung der Situation (Reframing): Langsam eine neue Sichtweise auf das Geschehene zu entwickeln und ihm vielleicht sogar einen Sinn zu geben, ist ein zentraler Schritt.
  • Akzeptanz: Irgendwann geht es darum, das Unveränderbare zu akzeptieren, ohne es gutzuheißen.

Fazit

Die Idee des Posttraumatischen Wachstums bietet einen hoffnungsvollen Blick auf die menschliche Fähigkeit zur Transformation. Sie erinnert uns daran, dass Menschen nicht nur zerbrechlich, sondern auch unglaublich anpassungsfähig und stark sind. Sie zeigt, dass selbst in der tiefsten Dunkelheit ein Samen für neues Leben keimen kann. Indem wir von diesen Geschichten des Wachstums erfahren, können wir vielleicht auch unseren eigenen Umgang mit Krisen mit etwas mehr Geduld, Mitgefühl und der stillen Hoffnung auf mögliches Gedeihen am anderen Ende betrachten.

Übungen zur Förderung von Posttraumatischem Wachstum

Die folgenden Übungen können den Prozess des Posttraumatischen Wachstums anregen und unterstützen. Sie zielen darauf ab, die fünf Kernbereiche gezielt zu fördern.

Wichtiger Hinweis: Diese Übungen sind unterstützende Werkzeuge zur Reflexion und ersetzen keine Therapie. Wenn Sie sich durch die Erinnerungen überwältigt fühlen, brechen Sie die Übung bitte ab und suchen Sie professionelle Hilfe.


1. Übung: Der „Anker der Dankbarkeit“

Fördert die Wertschätzung des Lebens

  • So geht’s: Nehmen Sie sich jeden Abend etwa 5 Minuten Zeit. Notieren Sie drei konkrete Dinge, für die Sie an diesem Tag dankbar waren. Diese müssen nicht bedeutend sein; der Geschmack einer Tasse Tee, ein freundlicher Gruß oder ein Moment der Stille können genügen.
  • Warum es hilft: Diese Praxis trainiert das Gehirn, aktiv nach positiven Erfahrungen zu suchen und verankert Sie im gegenwärtigen Moment. Sie wirkt der Tendenz entgegen, dass negative Gedanken und Erinnerungen den Alltag überschatten.

2. Übung: Das „Wer bin ich jetzt?“-Journal

Fördert das Bewusstsein für die persönliche Stärke

  • So geht’s: Beantworten Sie die folgenden Fragen schriftlich für sich selbst:
    • „Was habe ich in der letzten Krise über meine eigene Widerstandskraft und Stärke gelernt?“
    • „An welche schwierige Situation, die ich bereits bewältigt habe, kann ich mich erinnern? Was hat mir damals geholfen, durchzuhalten?“
    • „Wie würde ich den Satz ‚Ich bin jemand, der…‘ heute, nach meinen Erfahrungen, vervollständigen?“
  • Warum es hilft: Diese Reflexion unterstützt Sie dabei, ein neues, resilientes Selbstverständnis aufzubauen. Sie hilft, sich selbst als Person zu sehen, die Herausforderungen bewältigen kann, und nicht primär als Opfer der Umstände.

3. Übung: Die „Beziehungslandkarte“

Fördert die Intensivierung zwischenmenschlicher Beziehungen

  • So geht’s: Zeichnen Sie einen großen Kreis in die Mitte eines Blattes und schreiben Sie „Ich“ hinein. Zeichnen Sie weitere Kreise um den Mittelpunkt und tragen Sie die Namen von Menschen aus Ihrem Leben ein. Je näher Ihnen jemand emotional steht, desto näher platzieren Sie den Namen an der Mitte.
    • Reflexion: Betrachten Sie die fertige Landkarte. Wer steht sehr nah? Wer hat sich in der Krise als wahrhaft unterstützend erwiesen? Gibt es Beziehungen, die Sie vielleicht bewusst pflegen oder auch distanzierter gestalten möchten?
  • Warum es hilft: Diese Visualisierung schafft Klarheit über Ihr soziales Unterstützungsnetzwerk. Sie ermutigt Sie, Ihre Energie gezielt in die Beziehungen zu investieren, die Ihnen Kraft und Halt geben.

4. Übung: „Neue Kapitel“ Brainstorming

Fördert die Wahrnehmung neuer Möglichkeiten

  • So geht’s: Schreiben Sie den folgenden Satzanfang auf: „Auch wenn ich [X] nicht mehr tun/kann/habe, könnte ich stattdessen…“ (Ersetzen Sie [X] mit einem konkreten Verlust oder einer Einschränkung). Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf und notieren Sie alle Ideen, die Ihnen in den Sinn kommen – ohne sie in diesem Moment auf ihre Machbarkeit zu prüfen.
  • Warum es hilft: Diese Übung hilft, den Fokus vom erlittenen Verlust zu lösen und auf potenzielle neue Wege, Interessen oder Lebensentwürfe zu lenken. Sie öffnet den Geist für unerwartete Möglichkeiten.

5. Übung: Der „Sinn-Finder“

Fördert spirituelle und existenzielle Veränderungen

  • So geht’s: Stellen Sie sich eine der folgenden Fragen und schreiben Sie frei dazu, ohne zu zensieren:
    • „Wie hat diese Erfahrung meinen Blick auf das Leben und was wirklich wichtig ist, verändert?“
    • „Welches Wissen, welche Einsicht oder welche Fähigkeit besitze ich heute, die ich ohne diese Erfahrung wahrscheinlich nicht hätte?“
    • „Wie könnte ich mein Erlebtes nutzen, um vielleicht anderen Menschen in einer ähnlichen Situation Hilfe oder Trost zu spenden?“
  • Warum es hilft: Die aktive und bewusste Suche nach Sinn ist ein zentraler Motor des posttraumatischen Wachstums. Dieser Prozess hilft dabei, die traumatische Erfahrung in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren und ihr einen Platz zu geben, der über den bloßen Schmerz hinausgeht.

Empfehlung zur Durchführung:

  • Starten Sie klein. Wählen Sie zunächst eine oder zwei Übungen aus, die Sie am meisten ansprechen.
  • Seien Sie geduldig mit sich. Posttraumatisches Wachstum ist ein Prozess, der Zeit und Ruhe braucht. Erzwingen Sie nichts.
  • Schaffen Sie einen sicheren Rahmen. Es gibt keine „richtigen“ oder „falschen“ Antworten. Der Wert liegt im ehrlichen und mitfühlenden Reflexionsprozess mit sich selbst.

Literatur:

Mangelsdorf, J. Posttraumatisches Wachstum. Z Psychodrama Soziom 19, 21–33 (2020). https://doi.org/10.1007/s11620-020-00525-5