Schamanisches Trommeln begleitet menschliche Rituale seit Jahrtausenden. Was aus anthropologischer oder spiritueller Sicht faszinierend ist, erweist sich auch aus psychologischer Perspektive als höchst relevant. Es geht nicht nur um Kultur oder Esoterik, sondern um die unmittelbare Wirkung von Rhythmus auf die menschliche Psyche.
Die Trommel als Tor zu anderen Bewusstseinszuständen
Im Kern zielt das schamanische Trommeln darauf ab, einen Trance-Zustand zu induzieren – sowohl beim Spielenden als auch beim Zuhörenden. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist dieser Effekt gut erklärbar.
Der gleichmäßige, monotone Rhythmus, oft im Frequenzbereich von 4 bis 7 Schlägen pro Sekunde (Theta-Wellen-Bereich), wirkt auf das Gehirn wie ein akustischer Driver. Er kann die Gehirnwellenfrequenz synchronisieren, einen Prozess, der als Frequenzfolgereaktion bekannt ist. Dieser Zustand ist charakteristisch für tiefe Entspannung, Meditation und den Übergang zwischen Wachsein und Schlaf – ein Tor zum Unbewussten.

Psychologische Funktionen
1. Regulation von Emotionen und Stress
Der tiefe, resonante Klang der Trommel wirkt beruhigend auf das limbische System, das emotionale Zentrum des Gehirns. Die rhythmische Stimulation kann die Produktion von Stresshormonen reduzieren und stattdessen die Ausschüttung von Endorphinen und Serotonin fördern. Dies erklärt das häufig berichtete Gefühl der inneren Ruhe und Gelassenheit, das sich beim Trommeln einstellt.
2. Förderung von Achtsamkeit und Präsenz
Das Fokussieren auf den repetitiven Rhythmus zwingt den Geist, im Hier und Jetzt zu verweilen. Ähnlich wie bei einer Meditationspraxis unterbricht es den Strom der Alltagsgedanken („monkey mind“) und fördert einen Zustand der vertieften Konzentration und Achtsamkeit.
3. Zugang zum Unbewussten und symbolische Verarbeitung
Der trommelinduzierte Trancezustand umgeht teilweise die kognitive Kontrolle des präfrontalen Cortex. Dies kann den Zugang zu verdrängten Emotionen, intuitiven Einsichten und kreativen Ideen erleichtern. In diesem Zustand werden oft innere Bilder, Geschichten und Symbole wachgerufen, die aus tiefenpsychologischer Sicht (nach C. G. Jung) als Ausdruck des kollektiven Unbewussten oder archetypischer Muster verstanden werden können. Die „Reise“, die der Schamane antritt, kann somit als eine innere Reise in die eigene Psyche interpretiert werden.
4. Schaffung von Sinn und Kohärenz
Rituale allgemein – und das Trommeln als ritualisierte Praxis – geben dem Erleben eine Struktur und einen Sinn. In einer modernen Welt, die oft als fragmentiert und sinnentleert erlebt wird, kann eine solche Praxis helfen, ein Gefühl der Verbundenheit und Kohärenz wiederherzustellen – Verbundenheit mit sich selbst, mit anderen (bei gemeinsamen Trommeln) und mit etwas Größerem.
5. Katharsis und emotionaler Ausdruck
Das Trommeln bietet einen kanalisierten, körperlichen Weg für emotionalen Ausdruck. Wut, Freude, Trauer und Ekstase können durch den Rhythmus ausgedrückt und transformiert werden, was einen kathartischen Effekt haben kann.
Moderne therapeutische Anwendungen
Die Erkenntnisse über die Wirksamkeit des Trommelns haben Eingang in verschiedene Therapieformen gefunden. In der Musiktherapie wird Trommeln gezielt eingesetzt, um:
- Nonverbale Kommunikation zu ermöglichen
- Emotionen zu regulieren
- Soziale Interaktion in Gruppen zu fördern
- Trauma-Symptome zu lindern (z.B. durch Steuerung der Atmung und Beruhigung des Nervensystems)
Fazit: Die uralte Kraft des Rhythmus
Aus psychologischer Sicht ist schamanisches Trommeln weit mehr als ein folkloristisches Relikt. Es ist eine kraftvolle, praxisorientierte Methode, um Bewusstseinszustände gezielt zu verändern und psychische Prozesse zu anzuregen. Die Wirkung lässt sich nicht allein auf Spiritualität reduzieren, sondern findet eine fundierte Erklärung in Neurowissenschaften und Tiefenpsychologie. Der rhythmische Puls der Trommel scheint einen direkten Draht zu unseren innersten emotionalen und psychischen Landschaften zu haben – eine Erkenntnis, die die Schamanen alter Kulturen schon lange vor der modernen Wissenschaft intuitiv nutzten und die heute auch in der modernen Therapie wiederentdeckt wird.
Literatur
- Díaz, J. L. (2010). Neuroanthropologie der Trance: Ein biokultureller Ansatz. In E. Fürst (Hrsg.), Trance, Besessenheit und Ekstase (S. 89–112). facultas.wuv.
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- Vaitl, D. (Hrsg.). (2012). Veränderte Bewusstseinszustände: Grundlagen – Techniken – Phänomenologie (2. Aufl.). Schattauer.
