Selbstoptimierung: Wann gut auch gut genug ist.

Früher sagte man: „Lass uns mal spazieren gehen.“ Heute heißt es: „10.000 Schritte, Schrittfrequenz analysieren und dabei bitte achtsam atmen.“ Klingt gesund? Vielleicht. Aber auch anstrengend. Willkommen in der Ära der Selbstoptimierung – einem Zeitalter, in dem das Streben nach einem besseren Ich zum gesellschaftlichen Dauermotto geworden ist.

Wenn Selbstverbesserung zur Selbstvermeidung wird

Selbstoptimierung kann, wie die US-amerikanische Forscherin Brené Brown selbstkritisch feststellte, schnell zur Maske werden. Brown, die sich intensiv mit Scham und Verletzlichkeit beschäftigt, erkannte in ihrer eigenen Praxis, dass ihr ständiges Arbeiten an sich selbst – von Journaling bis zur Meditation – nicht unbedingt Ausdruck von Selbstliebe war, sondern oft von einem inneren Gefühl des Nicht-genug-Seins genährt wurde.

Ein Satz einer Interviewpartnerin traf sie tief:
„Ich dachte, Selbstoptimierung bedeutet, mich zu lieben – aber eigentlich habe ich mich die ganze Zeit heimlich abgelehnt.“

Das saß. Denn oft ist Selbstoptimierung nicht das, wofür wir sie halten – ein Weg zur Selbstfürsorge – sondern ein Ausdruck unserer Angst, nicht zu genügen.

Der psychologische Preis der Dauer-Verbesserung

Adam Haynes-LaMottes Artikel mit dem Titel „The Curse of Constant Self-Optimization“ beleuchtet genau dieses Phänomen. Die dort beschriebenen psychologischen Muster sind erschreckend bekannt: Menschen, die früh gelernt haben, dass Liebe und Anerkennung an Leistung geknüpft sind, entwickeln ein tief verankertes Bedürfnis, sich permanent zu verbessern – als Strategie zur Angstbewältigung.

Dabei wechseln sie selten in den Beobachtungsmodus, in dem man die Dinge einfach nur wahrnimmt. Stattdessen sind sie chronisch im Problemlösungsmodus – immer auf der Suche nach Fehlern, Defiziten und Verbesserungsmöglichkeiten. Das Fatale daran: Der Körper bleibt in einem dauerhaften Alarmzustand (Fight-or-Flight-Modus), was auf Dauer nicht nur zu mentaler Erschöpfung, sondern auch zu körperlichen Beschwerden führen kann.

Was wäre, wenn du dich nicht verbessern musst?

Die gute Nachricht: Persönlichkeitsentwicklung muss kein Wettkampf sein. Sie darf vielmehr ein Prozess der Selbstannahme sein. Es geht nicht darum, jemand anderes zu werden – sondern ganz du selbst.

Stell dir vor, du würdest heute aufhören, dich reparieren zu wollen. Stattdessen fragst du dich:
„Wie würde sich mein Leben anfühlen, wenn ich mich selbst annehme – genau so, wie ich bin?“

Das ist der Moment, in dem Entwicklung nicht aus Mangel, sondern aus Mitgefühl geschieht.

Selbstmitgefühl statt Selbstoptimierung

Natürlich ist es nicht per se schlecht, sich Ziele zu setzen oder an sich zu arbeiten. Doch es macht einen Unterschied, ob dies aus einem inneren Druck geschieht oder aus einem liebevollen Wunsch nach Wachstum. Wenn das „An-sich-Arbeiten“ mehr Stress macht als Sinn, ist es Zeit, innezuhalten.

Denn echte Veränderung beginnt dort, wo wir aufhören, uns ständig verändern zu müssen.

Kleine Schritte raus aus dem Optimierungs-Karussell:

  • Beobachten statt bewerten: Nicht jede Emotion braucht eine Lösung. Manchmal hilft es mehr, einfach da zu sein.
  • Feiern statt verbessern: Erkenne kleine Erfolge an, statt sofort an den nächsten Schritt zu denken.
  • Offline-Zeiten etablieren: Nicht jede freie Minute muss produktiv genutzt werden.
  • Frage dich regelmäßig: Tue ich das aus Liebe zu mir oder aus Angst, nicht gut genug zu sein?

Fazit: Der Mut zur Unperfektion

Vielleicht denkst du auch manchmal: „Wenn Selbstoptimierung olympisch wäre – ich hätte Gold geholt.“ Aber was, wenn du stattdessen lernst, einfach Mensch zu sein – mit Ecken, Kanten und Pausen?

Dann wird gut wieder gut genug.
Und genau darin liegt eine stille, aber kraftvolle Form von Freiheit.


Dieser Artikel will nicht perfekt sein. Er will ein Impuls sein. Für mehr Selbstmitgefühl.

Literatur:

Brown, B. (2013). Die Gaben der Unvollkommenheit: Loslassen, was du glaubst sein zu müssen, und umarme, was du bist. Kösel.

Neff, K. (2013). Selbstmitgefühl: Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden. Arbor Verlag.

Brach, T. (2005). Radikale Selbstannahme: Befreie dich von destruktiven Gedanken und Gefühlen. Arkana.

Hayes, S. C. (2022). Ein befreiter Geist: Wie wir mit der Akzeptanz- und Commitment-Therapie ein erfülltes Leben führen. Junfermann.