Hören Sie zu. Aber richtig. Auf allen Ebenen.

Hören begleitet mich schon mein ganzes Leben. Um als Kind herauszufinden, wie die Welt funktioniert, musste ich gut zuhören. Als ich die Welt bereiste, um sie kennenzulernen, war es wichtig, zuzuhören. Als Psychologe lernt man auf tiefsten Ebenen zu hören. In der Kommunikation mit meinen Eseln ist Hören unabdinglich. Ein Kind, dem man nicht zuhört, wird seelisch krank. Eine Partnerschaft zerbricht, wenn man einander nicht zuhört. Wer auf seinen Körper nicht hört, bekommt irgendwann die Rechnung präsentiert. Was passiert, wenn man der Natur nicht zuhört, spüren wir jeden Tag.

Im Moment leben wir weltweit in kritischen Zeiten. Große Veränderungen und Herausforderungen betreffen uns alle. Bei soviel Unsicherheit, Druck, Angst und Zorn ist Zuhören wichtiger denn je.

Wann immer Sie sich in einer Situation befinden, die unklar oder stressig ist, ist dies der beste Schritt: Hören Sie zu!

Und zwar nicht nur mit den Ohren. Man kann weit mehr Ebenen in die Wahrnehmung miteinbeziehen. Dieses Hören mit allen Sinnen hilft, wenn wir von so vielen widersprüchlichen Informationen aus den Medien überflutet werden, gelassener zu bleiben und Dinge besser einzuschätzen. Gerne stelle ich Ihnen dieses Konzept hier vor, in der Hoffnung, dass es auch für Sie hilfreich ist.

Hören auf vier Ebenen

Wie schnell ist man überfordert, wenn man Nachrichten aus aller Welt verfolgt. Eine Strategie wäre es nun, den Kopf in den Sand zu stecken und einfach nicht mehr zuzuhören. Sie könnten aber auch versuchen mehr zuzuhören. Nicht im Sinne von mehr Zeit. Sondern auf tieferen Ebenen: mit den Ohren, mit dem Körper, mit dem Herz und mit der Seele.

Hören mit den Ohren – die erste Ebene

Hören mit den Ohren

Unser Gehirn ist so gebaut, dass die hörbare Umgebung ständig gescannt wird, auf alles, was für uns besonders wichtig sein könnte. Diese raffinierte Art des Hörens nennt sich „Cocktail Party Phänomen“. Bestimmt kennen Sie das, wenn sie auf einer überfüllten Party sind, und der Raum erfüllt ist vom Plätschern der Stimmen. Wenn aber jemand in diesem Raum Ihren Namen sagt, werden Ihre Ohren sofort die Aufmerksamkeit darauf lenken. Bei Tieren kann man dieses Hören mit den Ohren gut beobachten: Katze, Hund, Esel drehen die Ohren in die Richtung eines wahrgenommenen Geräuschs, um darauf mit Freude oder auch Angst zu reagieren.

Die meisten Menschen hören nur auf dieser Ebene, wenn sie überhaupt zuhören. Und sie bleiben dann auf dieser emotionalen Stufe gefangen: in Empörung, Besorgnis, Verzweiflung. Unsere sensiblen Nervenenden stehen unter Dauerstrom. Anstatt nun tiefer zuzuhören, interpretieren wir das als Angriff und fangen an uns zu wehren oder zurückzuschreien. Das erschreckt aber wieder andere, die jetzt mehr denn je beunruhigt sind. Der Teufelskreis nimmt seinen Lauf. Konflikte eskalieren, Schuldzuweisungen werden laut, Mitgefühl erlischt. Hören mit den Ohren ist nur der Anfang.

Hören mit dem Körper – die zweite Ebene

Hören mit dem Körper

Wenn wir etwas hören, das uns Angst oder Stress macht, bemerken wir, wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, auch normalerweise unbewusst ablaufende körperliche Reaktionen: Die Muskelspannung steigt, der Herzschlag wird schneller, der Blutdruck erhöht sich, die Atemzüge werden kürzer und flacher, die Körpertemperatur verändert sich.

Sobald wir diese körperlichen Reaktionen bemerkt haben, können wir sie auch verändern. Etwa, indem wir tief und ruhig atmen. Indem wir unsere verspannten Muskelpartien kurz und kräftig anspannen und dann völlig entspannen. So lassen Sie Ihren Körper wissen, dass keine unmittelbare Bedrohung ansteht.

Mit dem Hören auf der Körperebene durch Achtsamkeit, Ruhe und Konzentration auf das Hier und Jetzt verändert sich die Erfahrung des Hörens gravierend. Wo wir anfangs einen Angriff befürchteten, kann sich nun zeigen, was nicht so offensichtlich ist. Wir können uns einfühlen in jemanden, der erschrocken, erschöpft oder gestresst ist. Durch diese Einsicht gewinnen wir selbst mehr Ruhe durch Verstehbarkeit und Handhabbarkeit. Und während wir uns selbst mehr entspannen, schaffen wir auch eine sicherere Umgebung für den anderen, der sich dadurch beruhigen kann.

Hören mit dem Körper erlaubt uns den emotionalen Ton mit erstaunlicher Genauigkeit aufzunehmen. So wird eine ganz andere Wahrheit einer Situation offenkundig. Wir werden bemerken, wo Worte jeglicher Logik trotzen oder wo wir manipuliert werden.

Hören mit dem Herzen – die dritte Ebene

Wenn wir die Absichten anderer Menschen erkennen, können wir entscheiden, wie weit wir unser Herz öffnen wollen. Wenn wir zuhören und langsam und rhythmisch atmen, können wir mit unserem physischen Herzen spüren, welche Reaktion eine kluge ist.

Wenn Sie etwas Wichtiges hören, überprüfen Sie, ob Ihr Herz vorwärts oder rückwärts gehen will. Wenn Sie belogen werden, kann es sein, dass Sie den Wunsch verspüren, wegzulaufen. Wenn jemand die Wahrheit sagt, oder etwas, das für Ihr Wohlbefinden gut ist, können Sie eine magische Anziehungskraft spüren. Das Herz kann einem dabei ganz leicht werden. So ein offenes Herz kann andere beruhigen. Je mehr Herzen sich in der Kommunikation öffnen, desto sanfter und mitfühlender werden wir miteinander umgehen. Eine Anleitung zu diesem Hören mit dem Herzen finden Sie in meinem Artikel über Herzkohärenz.

Hören mit der Seele – die vierte Ebene

Hören mit der Seele

Je mehr man dem ersten Impuls des Hörens mit den Ohren auch die Ebenen des Körpers und des Herzens hinzufügt, umso mehr verbindet man sich mit etwas, das Carl Gustav Jung das Kollektive Unbewusste nannte. Es ist, als ob man sich mit einer universellen Weisheit verbindet, die körperliche Grenzen verschwimmen lässt.

Wenn ich mit jemandem nicht konform gehe, erlaubt mir dieses Zuhören der Seele, dessen Verwirrung oder Schmerz zu erkennen. Das bedeutet nicht, seine Meinung zu ändern, etwa wenn man Hass oder Vorurteile hört. Aber es bedeutet, dass ich mit weniger Angst und mehr Bewusstsein zuhöre, weil ich erkenne, dass ein sinnloser Angriff eine viel schwächere Kraft als Mitgefühl ist.

Wenn ich mit meinen Ohren, meinem Körper und meinem Herzen zuhöre, bringe ich die Seele zum Schwingen und verbinde mich auf einer höheren Ebene mit Millionen Menschen, die sich weigern, der Angst und Verbitterung nachzugeben. Menschen, die hassen, mögen verletzt, wütend und beharrlich sein. Trotzdem ist es auch ihr Ziel, eine Welt zu schaffen, die sicher und gerecht ist und auf der ein glückliches Leben für uns alle möglich ist.

Hören auf allen Ebenen ist die Eintrittskarte

Wenn Sie also als erste Reaktion auf eine Nachricht erschrecken oder Angst bekommen, nehmen Sie ein paar tiefe Atemzüge, entspannen Sie nacheinander alle Muskelpartien und unterbrechen Sie so die reflexartige Attacke. Lauschen Sie auf die Eingebungen Ihres Herzens und Ihrer Seele. Nehmen Sie diese tiefere Einsicht über sich selbst, Ihr Gegenüber und Ihre Mitmenschen in aller Welt wahr.

Wenn ich an Zeiten denke, in denen ich intensiv auf diese Weise mit Patienten gearbeitet haben, stelle ich fest, dass dies auch Zeiten großen persönlichen Wachstums waren. Während man genau zuhört, wird man reifer, fähiger und vielleicht auch lebensweiser.

Vielleicht sind diese unsicheren, ereignisreichen Zeiten, die wir gerade durchleben, auch ein Geschenk für uns alle: Eine Zeit, in der wir lernen müssen, richtig zuzuhören und damit auch persönlich und gesellschaftlich wachsen.

Vollständiges Hören auf allen Ebenen bringt uns über unsere Grenzen hinaus und birgt die Chance auf eine neue Stärke. Keine Macht über andere. Sondern eine Kraft für uns alle. Richtiges Hören verbindet uns, indem es uns vom Schaden und Zerstören zum Frieden lenkt. So mag es tröstlich sein, dass die Fremdheit und das weltweite Aufbäumen der Natur, so katastrophal es erscheinen mag, auch nutzen kann, um eine sicherere, friedlichere, bessere Welt zu schaffen.

Literatur

Zuhören e.V. [Hrsg.: Volker Bernius und Hans Sarkowicz]. Ganz Ohr: Interdisziplinäre Aspekte des Zuhörens. Edition Zuhören, Band 1. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2002.

Niekerken, Anja. „Das Geheimnis richtigen Zuhörens: Wie Sie erfolgreicher und besser kommunizieren.“ 2020. Verfügbar unter: https://permalink.obvsg.at/vlb/VLB1167899. Zugriff am 13.4.2024.

https://marthabeck.com/2020/07/the-four-levels-of-listening/ Zugriff am 13.4.2024