Der Fischer und seine Frau. Ein Weckruf.

Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder Wunsch sofort in Erfüllung geht. Mehr Reichtum, mehr Macht, mehr Einfluss – ein scheinbar endloser Aufstieg. Klingt verlockend? Das dachte auch die Frau des Fischers im gleichnamigen Grimmschen Märchen. Am Ende steht das Paar mit nichts da als der Erinnerung an seinen Größenwahn.

Der Fischer und seine Frau. Grimms Märchen.

Dieses uralte Märchen ist kein Relikt aus vergangenen Tagen. Es ist ein Spiegel, den es uns heute, in einer Zeit des rastlosen „Mehr“, direkt ins Gesicht hält. Die Geschichte von maßloser Gier und schweigender Passivität ist die unheimlich genaue Vorhersage unseres kollektiven Moments. Doch anders als im Märchen ist unser Schicksal noch nicht besiegelt. Wir können die Geschichte umschreiben.

Die erste Lektion: Die Falle des „Immer-Weiter“

Die Fischerfrau kennt keine Zufriedenheit. Jeder erfüllte Wunsch ist nur die Startrampe für den nächsten. Dieses Muster des unstillbaren Begehrens treibt auch unsere moderne Welt an.

  • Auf der globalen Bühne: Supermächte streben nicht einfach nach Sicherheit, sondern nach grenzenloser Vorherrschaft. Ein Wettrennen um Einflusssphären, Ressourcen und technologische Dominanz, das oft auf Kosten der Schwächsten geht.
  • In unserem Alltag: Die sozialen Medien sind der perfekte Nährboden für dieses Denken. Likes und Follower suggerieren Fortschritt, doch sie schaffen eine suchtartige Gier nach immer mehr Bestätigung. Wir hetzen von einem Ziel zum nächsten, ohne jemals anzukommen.

Die zweite Lektion: Die Gefahr des Schweigens

Der Fischer spürt das Unheil, doch er schweigt. Aus Bequemlichkeit, aus Konfliktscheu. Diese Passivität ist der stille Komplize jeder Fehlentwicklung.

Wir sehen die Warnsignale: die zunehmende Umweltverschmutzung, die gespaltene Gesellschaft, die erodierten demokratischen Normen. Und doch neigen viele von uns dazu, wie der Fischer zu handeln – den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass es schon irgendwie gutgehen wird. Wir delegieren Verantwortung und wundern uns, warum sich nichts ändert.

Die dritte Lektion: Der Wendepunkt – Von der Hybris zur Besinnung

Der dramatische Höhepunkt des Märchens ist die Anmaßung, Gott gleich sein zu wollen. Die Folge ist der totale Verlust. Diese Hybris, diese Missachtung natürlicher und ethischer Grenzen, ist unsere größte aktuelle Gefahr.

  • In der Ökologie: Unser Streben nach grenzenlosem Wachstum kollidiert mit den endlichen Ressourcen unseres Planeten. Die Umweltkrise ist keine Strafe, sondern eine logische Konsequenz.
  • In der Technologie: Der ungebremste Vorstoß in Künstliche Intelligenz und Biotechnologie erfolgt oft schneller als unsere Fähigkeit, ethische Leitplanken zu setzen. Wir müssen uns fragen: Wollen wir wirklich alles, was wir können?

Die Alternative, die das Märchen offenlässt: Unsere Chance zu handeln

Die wahre Moral der Geschichte liegt nicht im Scheitern, sondern in der warnenden Andeutung eines anderen Weges. Was, wenn der Fischer Nein gesagt hätte? Was, wenn die Frau Zufriedenheit gelernt hätte?

Genau hier liegt unsere große Chance. Wir sind nicht dazu verdammt, die Fehler der Märchenfiguren zu wiederholen. Wir können die Erzählung ändern.

  • Wir können „Genug“ sagen. Das ist kein Verzicht, sondern eine Befreiung. Es ist die Entscheidung für ein Leben, das von Werten und nicht von unendlichem Begehren geprägt ist.
  • Wir können unsere Stimme erheben. Anstatt wie der Fischer passiv zu bleiben, können wir aktiv werden – in unserem Umfeld, in der Politik, in der Wirtschaft. Jede geforderte Rechenschaft, jedes Gespräch über Grenzen hinweg, ist ein Akt des Widerstands gegen die alte Geschichte.
  • Wir können Bescheidenheit wählen. Nicht aus Schwäche, sondern aus Weisheit. Zu erkennen, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind – einer natürlichen Welt und einer menschlichen Gemeinschaft –, ist die Grundlage für eine wirklich nachhaltige Zukunft.

Das Märchen vom Fischer und seiner Frau ist unsere Wahl. Wiederholen wir das alte Drama von Gier und Sturz? Oder schreiben wir ein neues Kapitel der Besinnung, des Muts und der gemeinsamen Vernunft?

Die Entscheidung liegt nicht beim Butt. Sie liegt bei uns.

Vom Lesen und Schreiben. Geschichten, die die Welt tragen.

Es gibt eine stille, unscheinbare Geste, die fast jedes Kind kennt: den Finger unter den Worten entlangziehen, um sich nicht zu verlieren. In dieser Bewegung liegt mehr als eine bloße Lesetechnik. Sie ist ein Symbol dafür, dass Lesen Zeit braucht, Aufmerksamkeit verlangt, ein Eintauchen, das nicht nebenbei geschehen kann.

In einer Welt, die immer schneller wird, in der Nachrichtenfetzen, Clips und Bilder im Sekundentakt über unsere Bildschirme laufen, wirkt diese Art des Lesens beinahe altmodisch. Doch gerade in dieser Langsamkeit liegt die Kraft des Geschichtenerzählens.

Lesen als Widerstand gegen die Beschleunigung

Geschichten sind keine Ware, die man hastig konsumiert. Sie sind Räume, die man betritt. Wer liest, tritt über eine unsichtbare Schwelle: hinein in Gärten, Städte, Welten, die von Autorinnen und Autoren über Monate, manchmal Jahre, erschaffen wurden. Ein schneller Blick auf die Oberfläche verfehlt ihr Inneres. Erst wer Satz für Satz verweilt, spürt, was zwischen den Zeilen liegt – die Pausen, das Ungesagte, die zarten Schattierungen.

So wie der „Selbstsüchtige Riese“ von Oscar Wilde, der sein Paradies verschloss und doch am Ende erkannte, dass Wärme und Leben nur dort entstehen, wo geteilt wird. Eine Geschichte, die uns bei jedem Wiederlesen neu begegnet, weil wir selbst uns verändern und andere Fragen an sie stellen.

Geschichten am Lagerfeuer - Lesen

Geschichten als älteste Technologie

Bevor es Bücher, Schrift oder gar digitale Netzwerke gab, saßen Menschen im Kreis um ein Feuer. Sie erzählten, sangen, deuteten mit Gesten. Geschichten waren die erste Form von Erinnerung, die erste Technologie des Verbindens. Sie erklärten, woher man kam, wohin man gehen könnte, und sie hielten das Wissen wach: vom richtigen Schlag mit dem Hammer bis hin zum Weg ins nächste Tal.

Lesen und Schreiben sind Fortsetzungen dieses Feuers. Jede Geschichte ist eine Flamme, die weitergegeben wird, manchmal auf Papier, manchmal mündlich, manchmal über einen Bildschirm – und doch bleibt ihr Kern gleich: Sie stiftet Verbindung.

Das Erbe der Stimmen, die fast verstummt wären

Für viele Generationen war Lesen ein Privileg, das nicht jedem zugestanden wurde. Ganze Bevölkerungsgruppen wurden systematisch ausgeschlossen, weil die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben Macht bedeutete – Macht über das eigene Leben, Macht über die Weitergabe von Geschichte.

Und doch haben Menschen, selbst ohne Schrift, ihre Geschichten bewahrt: in Liedern, Predigten, Quilts, in Humor und Widerstand. Das Erzählen wurde zum Akt des Überlebens. Heute, wenn wir ein Buch aufschlagen, treten wir in diesen Kreis ein, der nie zerbrochen ist. Wir lesen nicht nur für uns, sondern auch in Erinnerung an jene, die es nicht durften.

Schreiben als Antwort

Wer schreibt, antwortet auf diese Tradition. Schreiben heißt, neue Gärten zu öffnen, Mauern einzureißen und andere einzuladen. Es bedeutet, den eigenen Erfahrungen Raum zu geben, damit sie von anderen aufgenommen, gespiegelt, weitergetragen werden können. Schreiben schafft Sichtbarkeit und bestätigt, dass jedes Leben erzählenswert ist.

Eine Einladung zur Langsamkeit

Vielleicht liegt die Aufgabe unserer Zeit nicht darin, immer schneller zu lesen, zu scrollen, zu konsumieren, sondern vielmehr darin, die Hand wieder auszubreiten, den Finger unter die Worte zu legen und sich führen zu lassen.

Denn jedes langsame Lesen ist ein stiller Protest gegen das Vergessen, ein Lauschen auf Stimmen, die älter sind als wir, und ein Erinnern daran, dass wir Teil eines ungebrochenen Kreises sind.

Geschichten machen uns weniger allein. Sie erinnern uns daran, dass jede Mauer einstürzen kann – und dass in den Gärten der Sprache Platz für uns alle ist.

Lesenswertes

Barthes, R. (1987). Die Lust am Text. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
→ Ein klassischer Essay des französischen Literaturtheoretikers, der das Lesen als lustvollen, sinnlichen Akt beschreibt – und so den Gegensatz zur bloßen Informationsaufnahme betont.

Benjamin, W. (1977). Der Erzähler: Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
→ Benjamins berühmter Text über das Erzählen als Form von Erfahrung, Tradition und Erinnerung – ein Schlüsseltext zum Verständnis der narrativen Kultur.

Böll, H. (1985). Über das Schreiben. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
→ Sammlung von Essays und Reden, in denen Heinrich Böll über die Verantwortung von Literatur und die gesellschaftliche Rolle des Schreibens reflektiert.

Eco, U. (1994). Die unendliche Liste. München: Hanser.
→ Essayistische Reflexion über Sammeln, Aufzählen und Erzählen – ein spielerischer Zugang zum literarischen Umgang mit Sprache und Ordnung.

Handke, P. (1966). Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
→ Literarisch-philosophischer Essay über Sehen, Wahrnehmen und Schreiben – ein Plädoyer für Genauigkeit und Langsamkeit.

Iser, W. (1976). Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung. München: Wilhelm Fink.
→ Ein zentraler literaturwissenschaftlicher Text, der erklärt, wie Leser Texte „vollenden“ und Sinn aktiv mitgestalten.

Manguel, A. (1998). Eine Geschichte des Lesens. Frankfurt am Main: S. Fischer.
→ Ein groß angelegter kulturgeschichtlicher Essay, der Lesen von der Antike bis in die Gegenwart verfolgt – sehr zugänglich und erzählerisch.

Musil, R. (1992). Literatur und Kritik: Essays und Reden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
→ Reflexionen eines großen Autors über Literatur, Kritik und die Verantwortung des Schreibens.

Wolf, M. (2007). Proust und der Tintenfisch: Die Geschichte und Wissenschaft des Lesens. München: dtv.
→ Eine Mischung aus Neurowissenschaft, Literaturgeschichte und persönlicher Erzählung – über das, was im Gehirn beim Lesen geschieht.

Zweig, S. (1925). Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers. Stockholm: Bermann-Fischer.
→ Autobiografischer Klassiker, der zugleich ein Buch über das Verschwinden einer Kultur des Lesens und Schreibens im Umbruch der Moderne ist.

Eine kleine Kulturgeschichte der Unhöflichkeit

Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, wo all die guten Manieren geblieben sind? Die Zeit, in der man sich zur Begrüßung die Hand reichte und nicht das Smartphone? Sie sind nicht allein. Studien zeigen, dass sich fast die Hälfte von uns zunehmend von einem rauen, unhöflichen Ton in unserem Alltag umgeben fühlt. Von Fluchen in der Schlange an der Kasse über rücksichtslose Smartphone-Nutzung bis hin zur legendären Parkplatz-Schlacht vor dem Supermarkt – die Fundorte für Flegelhaftigkeit sind vielfältig.

Doch ist die Welt wirklich so viel unfreundlicher geworden? Und toben die schlimmsten Rudel-Kämpfe tatsächlich im Internet? Eine neue Studie wirft einen überraschenden Blick auf das, was wir für modernen Umgangsstil halten.

Höflichkeit beim Warten

Das „Wie-du-mir-so-ich-dir“-Prinzip der Unhöflichkeit

Zuerst die gute Nachricht: Nicht jeder, der uns anfährt, ist ein geborener Menschenfeind. Oft steckt schlicht ein schlechter Tag dahinter. Die wirklich interessanten Fälle jedoch folgen einem klaren Muster, dem „Prinzip der Unhöflichkeits-Reziprozität“ – oder einfacher: dem archetypischen „Wie-du-mir-so-ich-dir“.

Stellen Sie sich vor, Sie bitten höflich die Person hinter Ihnen in der Schlange, kurz Ihre vergessene Milch holen zu dürfen. Die Antwort ist ein unwirsches „Sie sind nicht der einzige, der es eilig hat.“ Der erste Impuls? Vermutlich nicht, höflich zu lächeln. Sondern innerlich (oder äußerlich) zu kontern: „Na, auch nicht gerade die fröhlichste Forelle im Teich, was?“.

Genau diesen Teufelskreis haben Forscher um Jonathan Culpeper von der Lancaster University näher untersucht. Ihr Ergebnis: Ob online oder offline, Unhöflichkeit funktioniert wie ein Bumerang – sie kommt oft zurück.

Online-Trolle vs. Parkplatz-Rambos: Wer ist unhöflicher?

Jetzt kommt das überraschende Ergebnis: Entgegen der landläufigen Meinung ist das Internet vielleicht gar nicht der unhöflicheste Ort der Welt. Zugegeben, in den Tiefen der Kommentarspalten wimmelt es von Gemeinheiten. Doch genau hier greift eine unsichtbare Hand regulierend ein: die Community. Moderatoren löschen Beiträge, andere User mischen sich ein und de-eskalieren. Die Anonymität schützt zwar den Unhöflichkeitstäter, aber die Öffentlichkeit zügelt ihn auch.

Ganz anders der klassische Streit im echten Leben, sagen die Forscher. Nehmen wir Situation im Supermarkt von oben. Hier stehen sich zwei Menschen direkt gegenüber. Eine Beleidigung wird nicht gelöscht, sie prallt ungebremst auf ihr Ziel. Und was passiert? Die berühmte „Rechnung“ wird gezogen. Man fühlt sich beleidigt und möchte diese verbale Schuld sofort zurückzahlen – am besten mit Zinsen. Ein Schneeball-System der Unfreundlichkeit beginnt zu rollen, bis jede Spur von Höflichkeit unter ihm begraben liegt.

Die Studie zeigt: Während online die Gemeinheit oft in einem großen Wut-Ausbruch explodiert und dann erstickt wird, schaukelt sie sich offline langsam, Schritt für Schritt, hoch. Jede Antwort ist ein bisschen bissiger, jede Reaktion eine Spur patziger.

Höflichkeit im Supermarkt

Also, was tun? Den Kreislauf durchbrechen!

Die ernüchternde Erkenntnis der Forschung ist: Es gibt sie, die chronisch Unhöflichen. Menschen, die laut älterer Studien „amorale Heißsporne“ sind, die keine Kritik annehmen und gerne im Rampenlicht stehen. Sie liefern die Vorlage für Reality-TV und politische Shoutings.

Doch die wichtigere und tröstlichere Erkenntnis ist: Wir sind ihnen nicht hilflos ausgeliefert. Der größte Hebel liegt bei uns selbst. Das „Wie-du-mir-so-ich-dir“-Prinzip funktioniert nämlich auch umgekehrt.

Der nächste Rempler im Gedränge? Ein freundliches „Passt schon!“ statt eines genervten Seufzers. Eine patzige Mail? Ein sachlicher, höflicher Satz als Antwort. Sie brechen den Kreislauf. Sie lassen die verbale Rechnung nicht weiterwachsen und entziehen ihr die Grundlage.

Die Welt wird vielleicht nicht über Nacht eine freundlichere werden. Aber Sie können Ihre eigene Welt ein Stück weit höflicher gestalten. Und wer weiß? Vielleicht stecken Sie ja sogar den einen oder anderen Parkplatz-Rambo mit Ihrer Gelassenheit an. Einfach mal ausprobieren – die Studie gibt Ihnen recht.

Literatur:

  • Culpeper, J., Tantucci, V. & Field, E. (2025). Unhöflichkeit im Internet. Zeitschrift für Pragmatik, 242242, 216–236.
  • Park, A., Ickes, W., & Robinson, R. L. (2014). Mehr f. %ing rudeness: Zuverlässige Persönlichkeitsvorhersagen für verbale Grobheit. Zeitschrift für Aggression, Konflikt- und Friedensforschung, 6 (1), 26–43.

Schamanisches Trommeln – innere Reisen im uralten Rhythmus

Schamanisches Trommeln begleitet menschliche Rituale seit Jahrtausenden. Was aus anthropologischer oder spiritueller Sicht faszinierend ist, erweist sich auch aus psychologischer Perspektive als höchst relevant. Es geht nicht nur um Kultur oder Esoterik, sondern um die unmittelbare Wirkung von Rhythmus auf die menschliche Psyche.

Die Trommel als Tor zu anderen Bewusstseinszuständen

Im Kern zielt das schamanische Trommeln darauf ab, einen Trance-Zustand zu induzieren – sowohl beim Spielenden als auch beim Zuhörenden. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist dieser Effekt gut erklärbar.

Der gleichmäßige, monotone Rhythmus, oft im Frequenzbereich von 4 bis 7 Schlägen pro Sekunde (Theta-Wellen-Bereich), wirkt auf das Gehirn wie ein akustischer Driver. Er kann die Gehirnwellenfrequenz synchronisieren, einen Prozess, der als Frequenzfolgereaktion bekannt ist. Dieser Zustand ist charakteristisch für tiefe Entspannung, Meditation und den Übergang zwischen Wachsein und Schlaf – ein Tor zum Unbewussten.

Schamanisches Trommeln

Psychologische Funktionen

1. Regulation von Emotionen und Stress

Der tiefe, resonante Klang der Trommel wirkt beruhigend auf das limbische System, das emotionale Zentrum des Gehirns. Die rhythmische Stimulation kann die Produktion von Stresshormonen reduzieren und stattdessen die Ausschüttung von Endorphinen und Serotonin fördern. Dies erklärt das häufig berichtete Gefühl der inneren Ruhe und Gelassenheit, das sich beim Trommeln einstellt.

2. Förderung von Achtsamkeit und Präsenz

Das Fokussieren auf den repetitiven Rhythmus zwingt den Geist, im Hier und Jetzt zu verweilen. Ähnlich wie bei einer Meditationspraxis unterbricht es den Strom der Alltagsgedanken („monkey mind“) und fördert einen Zustand der vertieften Konzentration und Achtsamkeit.

3. Zugang zum Unbewussten und symbolische Verarbeitung

Der trommelinduzierte Trancezustand umgeht teilweise die kognitive Kontrolle des präfrontalen Cortex. Dies kann den Zugang zu verdrängten Emotionen, intuitiven Einsichten und kreativen Ideen erleichtern. In diesem Zustand werden oft innere Bilder, Geschichten und Symbole wachgerufen, die aus tiefenpsychologischer Sicht (nach C. G. Jung) als Ausdruck des kollektiven Unbewussten oder archetypischer Muster verstanden werden können. Die „Reise“, die der Schamane antritt, kann somit als eine innere Reise in die eigene Psyche interpretiert werden.

4. Schaffung von Sinn und Kohärenz

Rituale allgemein – und das Trommeln als ritualisierte Praxis – geben dem Erleben eine Struktur und einen Sinn. In einer modernen Welt, die oft als fragmentiert und sinnentleert erlebt wird, kann eine solche Praxis helfen, ein Gefühl der Verbundenheit und Kohärenz wiederherzustellen – Verbundenheit mit sich selbst, mit anderen (bei gemeinsamen Trommeln) und mit etwas Größerem.

5. Katharsis und emotionaler Ausdruck

Das Trommeln bietet einen kanalisierten, körperlichen Weg für emotionalen Ausdruck. Wut, Freude, Trauer und Ekstase können durch den Rhythmus ausgedrückt und transformiert werden, was einen kathartischen Effekt haben kann.

Moderne therapeutische Anwendungen

Die Erkenntnisse über die Wirksamkeit des Trommelns haben Eingang in verschiedene Therapieformen gefunden. In der Musiktherapie wird Trommeln gezielt eingesetzt, um:

  • Nonverbale Kommunikation zu ermöglichen
  • Emotionen zu regulieren
  • Soziale Interaktion in Gruppen zu fördern
  • Trauma-Symptome zu lindern (z.B. durch Steuerung der Atmung und Beruhigung des Nervensystems)

Fazit: Die uralte Kraft des Rhythmus

Aus psychologischer Sicht ist schamanisches Trommeln weit mehr als ein folkloristisches Relikt. Es ist eine kraftvolle, praxisorientierte Methode, um Bewusstseinszustände gezielt zu verändern und psychische Prozesse zu anzuregen. Die Wirkung lässt sich nicht allein auf Spiritualität reduzieren, sondern findet eine fundierte Erklärung in Neurowissenschaften und Tiefenpsychologie. Der rhythmische Puls der Trommel scheint einen direkten Draht zu unseren innersten emotionalen und psychischen Landschaften zu haben – eine Erkenntnis, die die Schamanen alter Kulturen schon lange vor der modernen Wissenschaft intuitiv nutzten und die heute auch in der modernen Therapie wiederentdeckt wird.

Literatur

  1. Díaz, J. L. (2010). Neuroanthropologie der Trance: Ein biokultureller Ansatz. In E. Fürst (Hrsg.), Trance, Besessenheit und Ekstase (S. 89–112). facultas.wuv.
  2. Fach, T. (2018). Die heilende Kraft des Rhythmus: Musiktherapie und Neurobiologie. Springer.
  3. Maurer, R. L. (2016). Rhythmus und Trance: Die psychologische Wirkung des schamanischen Trommelns. Zeitschrift für Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, 27(3), 123–130.
  4. Ritter, M. (2015). Tranceformationen: Zur Psychophysiologie schamanischer Trance. In A. Weber & L. Vaitl (Hrsg.), Veränderte Bewusstseinszustände: Grundlagen – Techniken – Phänomenologie (S. 145–168). Schattauer.
  5. Tucek, G. (2019). Handbuch der Musiktherapie: Theoretische Grundlagen, Praxis, Forschung. Springer.
  6. Vaitl, D. (Hrsg.). (2012). Veränderte Bewusstseinszustände: Grundlagen – Techniken – Phänomenologie (2. Aufl.). Schattauer.

Single Tasking – Lass dich nicht verrückt machen!

Willkommen im Hamsterrad! Eine Gesellschaft, die Multitasking feiert, hat uns weisgemacht, dass wir nur etwas wert sind, wenn wir fünf Dinge gleichzeitig tun. E-Mails checken während dem Frühstückskaffee, nebenher den Einkauf planen und dabei noch die Kinder bespaßen? Das ist kein Lifestyle, das ist Wahnsinn auf Rezept.

Multitasking ist der größte Betrug unserer Zeit. Es verspricht Effizienz, aber liefert nur Hektik, Halbgares und das ständige Gefühl, nie wirklich da zu sein. Zeit, den Stecker zu ziehen. Die bewusste Rebellion dagegen heißt: Single Tasking.

Single Tasking

Single Tasking: Die elegante Art, „F*ck you“ zu sagen

Single Tasking ist die radikale Entscheidung, nur eine Sache zu tun. Und zwar so, als ob sie gerade das Wichtigste auf der Welt wäre. Weil sie das ja auch ist. Es ist ein Akt der Selbstverteidigung. Eine klare Ansage an Körper und Geist: „Alles andere kann warten. Jetzt bin ich hier.“ Diese Art der Fokussierung ist nicht nur verdammt effektiv, sie ist auch ein echter Luxus. Sie entschleunigt, schenkt Klarheit und erlaubt uns, unser eigenes Leben wieder zu leben, statt nur durchzurennen.

Warum Multitasking uns kaputtmacht (und nicht cool ist)

Unser Gehirn ist keine Workaholic-Maschine, es ist ein elegant denkender Künstler. Es kann keine zwei komplexen Aufgaben parallel erledigen, es kann nur hektisch zwischen ihnen hin- und herspringen wie ein überdopeter Zirkus-Hund. Dieses geistige Pingpong macht uns nervös, treibt den Stresspegel in die Höhe und führt dazu, dass wir nur noch halbe Sachen machen. Im echten Leben bedeutet das: Du bist beim Abendessen mit deinen Liebsten, aber dein Kopf sortiert noch die Mails von heute Mittag. Wie schrecklich!

Multitasking ist ein Betrugsversuch. Der Begriff stammt aus der IT-Welt, wo Prozessoren vortäuschen, mehrere Dinge parallel zu tun. Unser Gehirn kann das nicht. Es kann nicht malochen und telefonieren. Es kann nur ruckelnd zwischen Aufgaben hin- und herschalten.
Dieses ständige „Task-Switching“ ist eine absolute Energie- und Zeitverschwendung. Die Fakten sind erbarmungslos und zeigen, dass Multitasking:

  • dich bis zu 40 % unproduktiver macht,
  • die Fehlerquote in die Höhe treibt,
  • deine Stresshormone explodieren lässt,
  • dein Gehirn schneller ausbrennen lässt.

Kurzum: Wer Multitasking feiert, feiert seine eigene Ineffizienz.

Single Tasking im Alltag – Mini-Rebellionen für mehr Souveränität

1. Hier und Jetzt
Leg das Handy weg. Wirklich. JETZT. Iss. Schmecke. Rieche. Spüre, was da eigentlich auf deinem Teller liegt. Aus einer lästigen Kalorienaufnahme wird so wieder ein echter Genuss. Revolutionär, oder?

2. Gespräche, die kein Background-Programm sind
Wenn du mit jemandem redest, dann TU DAS AUCH. Das Handy ist tabu. Dein Gegenüber verdient deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Das ist nicht nur höflich, sondern mittlerweile eine rare und wertvolle Gabe.

3. Spaziergang statt Social Walk
Geh raus. Ohne Kopfhörer. Ohne Podcast. Ohne Telefonat. Sieh dich um. Hör den Vögeln zu. Spür den Boden unter deinen Füßen. Dein Gehirn wird dir danken, dass du es mal für 20 Minuten aus der Datenflut entlassen hast.

4. Putzen als Power-Move
Auch Abwasch kann Meditation sein. Konzentrier dich einfach nur auf den Schaum, das warme Wasser, das glänzende Glas. Anstatt dich zu ärgern, kommst du runter. Aus einer lästigen Pflicht wird eine kleine Auszeit.

5. Mach mal Pause. Eine echte.
Eine Tasse Kaffee oder Tee trinken, ohne nebenher auf einen Bildschirm zu starren. Einfach nur dasitzen und trinken. Das ist keine Zeitverschwendung, das ist ein kleines Selbstfürsorge-Ritual, das dich für die nächste Runde stärkt.

Die Psychologie dahinter: Achtsamkeit ist die neue Rebellion

Single Tasking ist eine Haltung. Es ist die dreiste Weigerung, das Tempo der anderen mitzugehen. Es ist die Erlaubnis, langsam, präsent und unproduktiv im herkömmlichen Sinne zu sein. Es ist die Einsicht, dass deine Aufmerksamkeit dein wertvollstes Gut ist – und dass du sie beschützt.

Das Ergebnis? Weniger Stress, mehr innere Ruhe und das gute Gefühl, die Kontrolle über deine eigene Zeit und dein Leben zurückzuerobern.

Fazit: Gönn es dir.

Single Tasking ist die größte Form von Selbstfürsorge in einer Welt, die dich ausbrennen will. Es schenkt dir echte Präsenz – bei der Arbeit, beim Essen, in Beziehungen. Es ist der schnellste Weg, dein Leben nicht nur schneller, sondern vielmehr besser, bewusster und erfüllter zu gestalten. Manchmal ist die radikalste und frechste Entscheidung, die du treffen kannst, einfach nur eine Sache zu tun.

Kräuterbüschel, Frauendreißiger und die Psychologie des Reifens

Am 15. August, Mariä Himmelfahrt, beginnt in vielen Regionen der sogenannte Frauendreißiger – eine etwa dreißig tägige Zeit, in der nach alter Überlieferung die Kräuter ihre stärkste Heilkraft entfalten. Traditionell werden an diesem Tag Kräuterbüschel gebunden: kunstvoll arrangierte Sträuße aus Heilpflanzen, die getrocknet und für das kommende Jahr aufbewahrt werden. In dieser Periode ist „alle Kraft im Überirdischen“, wie es im Volksglauben heißt – in den Blüten und Samen, in denen das Leben für das nächste Jahr gesichert wird. Erst mit der Tag-und-Nachtgleiche im September zieht sich die Energie der Pflanzen in die Wurzeln zurück.

Kräuterbüschel

Diese Bilder sind nicht nur landwirtschaftlich oder heilkundlich bedeutsam, sondern auch psychologisch kraftvoll. Sie sprechen vom Reifeprozess – einem Moment, in dem Wachstum nicht mehr nach außen drängt, sondern sich zu einem Höhepunkt verdichtet. Die Pflanze sammelt ihre Kräfte, um ihre Essenz in den Samen zu legen. Übertragen auf den Menschen ist dies ein Sinnbild für jene Phasen im Leben, in denen wir nicht Neues beginnen, sondern das Gewachsene vollenden, verdichten, absichern.

Reife als psychologischer Prozess
In der Entwicklungspsychologie gibt es das Konzept der Generativität – die Fähigkeit, das, was wir aufgebaut haben, an die nächste Generation oder an die Gemeinschaft weiterzugeben. Das kann Wissen sein, Fürsorge, ein Projekt, ein Wert. Der Frauendreißiger erinnert daran, dass es nicht immer um permanentes Wachsen oder Verändern geht, sondern um die Pflege und Weitergabe von Erreichtem.

Die Kraft der Verdichtung
Die Natur lehrt uns in dieser Zeit auch etwas über Prioritäten: Die Pflanze steckt ihre Energie gezielt in den Samen – das Wesentliche. Psychologisch bedeutet das, Ballast abzuwerfen und sich auf Kernanliegen zu konzentrieren. In einer Welt, die Dauerbeschleunigung liebt, ist diese Fokussierung eine Form innerer Selbstfürsorge.

Übergänge bewusst gestalten
Dass sich die Energie nach der Tag-und-Nachtgleiche wieder in die Wurzeln zurückzieht, spiegelt den Zyklus von Aktivität und Rückzug, den wir alle brauchen. Nach dem Ausreifen folgt das Sammeln im Inneren – eine Phase der Regeneration, in der wir uns auf das Wesentliche besinnen. Wer diesen Rhythmus respektiert, lebt im Einklang mit inneren und äußeren Kräften.

Vielleicht sind die gebundenen Kräuterbüschel daher nicht nur Heilpflanzenbündel, sondern auch kleine psychologische Erinnerungsstücke: daran, dass jede Reifezeit ihren Wert hat, dass Ausrichtung und Konzentration entscheidend sind – und dass Rückzug kein Verlust, sondern Vorbereitung auf das nächste Blühen ist.

Stell dir das Schlimmste vor – um das Beste zu leben

Optimismus, Fortschrittsdenken, Purpose – diese Schlagworte dominieren die moderne Selbsthilfeliteratur. Und doch lohnt es sich, einen weniger populären Weg zu gehen: den des bewussten, konstruktiven Pessimismus. Genauer gesagt: den der negativen Visualisierung.

Diese Technik hat ihren Ursprung in der stoischen Philosophie und wird heute zunehmend auch psychologisch neu bewertet. Sie bietet einen kraftvollen Zugang zu einem geerdeten, flexiblen und sinnerfüllten Leben – gerade in einer Zeit, in der viele im Streben nach Glück und Erfolg ausbrennen.

Schiffbruch - negative Visualisierung

Was ist negative Visualisierung?

Die lateinische Bezeichnung premeditatio malorum – das „Vorherbedenken des Schlechten“ – stammt aus der Feder des römischen Philosophen Seneca. Die Idee: Man stellt sich bewusst vor, wie Dinge scheitern, verloren gehen oder nicht wie geplant verlaufen. Klingt unangenehm? Ist es zunächst auch – aber nur auf den ersten Blick.

Denn Ziel dieser Übung ist nicht Angst, sondern Akzeptanz. Wer regelmäßig mit dem Worst Case spielt, verliert die lähmende Angst davor – und gewinnt gleichzeitig ein tieferes Gefühl der Dankbarkeit für das, was da ist.

Drei Wege, wie negatives Denken uns positiv verändern kann

1. Den Weg mehr schätzen als das Ziel

Viele Lebenspläne sind auf ein großes Ziel fokussiert: den Studienabschluss, die Karriere, den perfekten Partner, das Traumhaus. Aber was, wenn wir diese Ziele nie erreichen? Oder wenn sie sich am Ende doch nicht als erfüllend erweisen?

Indem wir uns vorstellen, dass der große Erfolg ausbleibt, zwingen wir uns zur Reflexion: Würde ich den Weg trotzdem gehen? Wenn ja – haben wir etwas gefunden, das intrinsisch Sinn macht. Kleine, alltägliche Schritte bekommen dann plötzlich ein ganz anderes Gewicht.

Psychologischer Effekt: Die Betonung der Tätigkeit an sich (statt auf externen Outcomes) fördert intrinsische Motivation und schützt vor Frustration durch unerfüllbare Erwartungen.

2. Raum schaffen für Unerwartetes

Ein fixiertes Ziel kann wie Scheuklappen wirken. Wer sich ausschließlich auf das Gipfelkreuz konzentriert, übersieht vielleicht das versteckte Tal am Wegrand – eine überraschende Begegnung, ein neuer Gedanke, ein bislang unentdeckter Lebensweg.

Negative Visualisierung öffnet die Perspektive: Was, wenn mein Plan nicht aufgeht – was entdecke ich stattdessen? Diese Haltung fördert geistige Flexibilität und macht uns empfänglicher für Zufälle, Wendepunkte und „Fehler“, die sich als Glücksfall entpuppen.

Therapeutischer Aspekt: Akzeptanz von Unsicherheit stärkt psychische Resilienz und die Fähigkeit zur Neubewertung („Reframing“).

3. Dem Glück ein realistisches Fundament geben

Viele Menschen erleben nach dem Erreichen großer Ziele eine paradoxe Leere. Dieses Phänomen nennt sich hedonistische Adaption: Selbst das Beste wird mit der Zeit zur Normalität – und verliert seinen Reiz.

Wer sich regelmäßig klarmacht, wie leicht auch das scheinbar Selbstverständliche verloren gehen kann, kultiviert eine tiefere Dankbarkeit im Alltag. Nicht trotz, sondern gerade wegen der Vorstellung, es könnte anders sein.

Psychologische Wirkung: Der Fokus verschiebt sich vom „Ich bin erst glücklich, wenn…“ hin zum „Ich bin zufrieden, obwohl…“.

Fazit: Pessimismus als praktischer Lebenshelfer

Die stoischen Philosophen waren keine Zyniker. Sie waren Pragmatiker – und erstaunlich modern. Ihre zentrale Botschaft: Bereite dich innerlich auf das vor, was du nicht kontrollieren kannst, um dich auf das zu konzentrieren, was du gestalten kannst.

Negative Visualisierung bedeutet nicht Resignation – sondern Befreiung.

Wer sich regelmäßig vorstellt, dass Dinge scheitern könnten:

  • lernt, sich nicht zu sehr an Ziele zu klammern,
  • entdeckt Sinn im Prozess selbst,
  • bleibt offen für Alternativen,
  • und bewahrt eine stabile Zufriedenheit trotz Wandel und Verlust.

In einer Welt, die von Leistung und Hochglanzträumen geprägt ist, kann dieser kleine Perspektivwechsel genau das sein, was uns zurück ins Hier und Jetzt bringt – und damit zu einem wahrhaft erfüllten Leben.

Reflexionsfragen

  1. Welche meiner aktuellen Lebensziele wären für mich auch dann sinnvoll, wenn ich sie niemals vollständig erreiche?
    → Diese Frage hilft, zwischen äußeren Erfolgen und innerer Sinnhaftigkeit zu unterscheiden.
  2. Was in meinem Leben nehme ich als selbstverständlich hin – und wie würde ich darüber denken, wenn es morgen nicht mehr da wäre?
    → Diese Perspektive fördert Dankbarkeit und Präsenz im Alltag.
  3. Wie könnte ich mit mehr Leichtigkeit auf Umwege oder „Scheitern“ reagieren, wenn ich sie nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit begreife?
    → Hier geht es um die Entwicklung psychologischer Flexibilität und Offenheit für neue Wege.

Literatur

Hadot, P. (2001). Die innere Festung: Der Weg zu sich selbst mit den „Selbstbetrachtungen“ des Marcus Aurelius (U. Meyer, Übers.). C.H. Beck.

Irvine, W. B. (2011). Die Kunst des guten Lebens: Das stoische Handbuch für moderne Lebenskunst (J. Knauer, Übers.). FinanzBuch Verlag.

Long, A. A. (2011). Epiktet: Ein stoischer Philosoph als Lehrer des Lebens (F. Schlechtriemen, Übers.). Marix Verlag.

Seneca. (2010). Briefe an Lucilius (M. Schöne & R. Nickel, Hrsg. & Übers.). Reclam Verlag.

Die Psychologie der Poesie

Kreativität ist keine mystische Gabe, sondern ein psychologischer Prozess, den wir gezielt anregen können. Eine besonders wirksame, aber oft übersehene Methode ist die Poesie. Aus psychologischer Sicht aktiviert sie kognitive und emotionale Netzwerke im Gehirn, die für innovatives Denken entscheidend sind. Doch wie genau funktioniert das?

Poesie

1. Kognitive Flexibilität durch poetische Sprache

Psychologen wie Dr. Shelley Carson betonen, dass Kreativität eng mit kognitiver Flexibilität verbunden ist – der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Denkstilen zu wechseln. Poesie fordert genau das:

  • Metaphern verlangen abstraktes Denken (rechte Gehirnhälfte), während Struktur und Rhythmus analytische Prozesse (linke Gehirnhälfte) aktivieren.
  • Studien zeigen, dass das Lesen von Gedichten das divergente Denken („Brainstorming“-Fähigkeit) stärker anregt als Prosa.

2. Emotionale Tiefe und Selbstreflexion

Poesie wirkt direkt auf das limbische System, das für Emotionen zuständig ist. Die Psychotherapie nutzt bereits poetische Techniken (z. B. Schreibtherapie), weil:

  • Gedichte unbewusste Gefühle verdichtet ausdrücken können (ähnlich wie Träume in der Psychoanalyse).
  • Das Schreiben über persönliche Erlebnisse in poetischer Form erhöht die Selbstwirksamkeit und verringert Stress.

3. Achtsamkeit und sensorische Wahrnehmung

Achtsamkeitsforschung zeigt: Kreativität entsteht oft im Zustand präsenter Wahrnehmung. Poesie trainiert dies, indem sie:

  • zur Fokussierung auf kleine Details (ein Blatt, ein Geräusch) anregt – ähnlich wie Meditation.
  • die sensorische Verarbeitung schärft, was laut Neuropsychologie die Ideenfindung begünstigt.

4. Spielerische Regelbrüche fördern Innovation

Die Psychologie der Kreativität betont: Spielerisches Experimentieren ist zentral für Durchbrüche. Poesie bietet hier ein sicheres „Labor“:

  • Freie Verse brechen mit Konventionen und stärken die Toleranz für Ambiguität (wichtig bei komplexen Problemen).
  • Reime und Klangspiele aktivieren das Belohnungssystem (Dopaminausschüttung), was Motivation und Flow fördert.

5. Poesie als Stimulans für den Vagusnerv – Ruhe und Kreativität im Einklang

Neurowissenschaftliche Forschungen zeigen, dass rhythmische, lyrische Sprache – besonders beim Rezitieren oder Hören von Gedichten – den Vagusnerv aktiviert, unseren zentralen Ruhenerv im parasympathischen System. Dies erklärt, warum Poesie oft als beruhigend und zugleich inspirierend empfunden wird:

  • Melodische Sprachmuster (z. B. Reime, Metrik) synchronisieren sich mit der Atmung und senken die Herzfrequenz – ein Effekt, der auch aus der Musiktherapie bekannt ist.
  • Emotionale Entlastung: Da der Vagusnerv mit der Emotionsregulation (Amygdala) verbunden ist, kann poetisches Schreiben oder Lesen Stress abbauen – und so mentalen Raum für kreative Ideen schaffen.
  • Soziale Kreativität: Da der Vagusnerv auch unsere Kommunikationsfähigkeit (Stimme, Mimik) steuert, fördert Poesie nicht nur innere, sondern auch zwischenmenschliche Kreativität.

Fazit: Poesie als Gehirntraining für Kreativität

Poesie ist mehr als Literatur – sie ist ein psychologisches Werkzeug, das neuronale Netzwerke für Innovation, emotionale Intelligenz und Resilienz stärkt. Ob Sie Gedichte lesen, schreiben oder einfach laut rezitieren: Sie nutzen damit effektive Mechanismen, die auch die Wissenschaft anerkennt.

Probieren Sie es aus – Ihr Gehirn wird es Ihnen danken.

Literatur

Carson, S. (2010). Your Creative Brain: Seven Steps to Maximize Imagination, Productivity, and Innovation in Your Life. Jossey-Bass.

Csikszentmihalyi, M. (2010). Kreativität: Wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden. Klett-Cotta.

Henderson, M. (2025). Ignite Your Creativity With Poetry. Psychology Today.

Hüther, G. (2016). Mit Freude lernen – ein Leben lang: Weshalb wir ein neues Verständnis vom Lernen brauchen. Vandenhoeck & Ruprecht.

Kabat-Zinn, J. (2013). Im Alltag Ruhe finden: Meditationen für ein gelassenes Leben. Arbor Verlag.

Moser, M. (2019). Die Kraft des Vagusnervs: Selbstheilung durch Stimulation des Nervensystems – Mit 8 einfachen Übungen. Goldmann Verlag.

Pennebaker, J. W. (1997). Opening Up: The Healing Power of Expressing Emotions. Guilford Press.

Porges, S. W. (2011). The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-regulation. W.W. Norton & Company.

Rosenberg, M. (2016). Poesietherapie: Die heilende Kraft des Schreibens. Carl-Auer Verlag.

Schreiben ohne Plan: Die günstigste Therapie der Welt

Stell dir vor, du lässt einen Stift über das Papier fließen – ohne Ziel, ohne Druck. Was passiert? Dein Unterbewusstsein übernimmt. Plötzlich sprudeln Sätze hervor, die du nie geplant hast. Und manchmal, ganz unerwartet, stolperst du über eine Wahrheit, die du längst vergessen hattest. Absichtsloses Schreiben ist wie Psychoanalyse in Eigenregie – nur ohne Couch und teure Rechnung.

„Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Worte weglassen.“ – Mark Twain

Was aber, wenn wir noch einen Schritt weitergehen und gar keine „richtigen“ Worte suchen? Wenn wir einfach schreiben – nicht um zu überzeugen, nicht um zu glänzen, sondern nur, um zu erforschen, was in uns schlummert?

Schreiben ohne Plan

1. Der Impuls: Warum unser Gehirn auf Kreativität fliegt

Unser Verstand liebt Kontrolle. Doch Kreativität entsteht genau dann, wenn wir sie loslassen. Ein simpler Schreibimpuls („Schreib über den Geruch von Regen“) umgeht die innere Zensur – und plötzlich landet man bei einer Kindheitserinnerung, die längst vergraben schien.

Psychologischer Bonus: Das limbische System (unser emotionales Zentrum) feuert beim freien Schreiben wie wild. Wir umgehen den prüfenden Präfrontalen Cortex und lassen zu, was wirklich da ist. Kein Wunder, dass Tagebuchschreiben nachweislich Stress reduziert.

2. Das Schreiben: Warum „sinnlose“ Texte uns befreien

„Das ergibt doch keinen Sinn!“, flüstert die innere Kritikerin. Genau darum geht’s. Wenn wir uns vom Perfektionismus verabschieden, passiert Magie:

  • Kognitive Entlastung: Unsortierte Gedanken finden Struktur, sobald sie aufs Papier fließen.
  • Selbsterkenntnis: „Warum schreibe ich immer wieder über diese verlassene Bahnhofsuhr?“ – Aha, da ist ja ein unverarbeitetes Thema.
  • Flow-Zustand: Wenn Zeit verschwindet und die Hand schreibt, als würde sie ferngesteuert, sind wir im kreativen Nirvana.

3. Vorlesen: Die Angst, die uns verbindet

„Was, wenn alle mich auslachen?“ Dieses Gefühl kennt jeder, der schon mal etwas Persönliches geteilt hat. Doch hier passiert das Verrückte:

Vulnerabilität schafft Nähe. Wenn du deine Worte vorliest, gibst du anderen die Erlaubnis, es auch zu tun. Und plötzlich sitzt ihr nicht mehr als Fremde da, sondern als Menschen, die sich in Geschichten wiederfinden.

Studien zeigen, dass gemeinsames Geschichtenerzählen Oxytocin (das „Bindungshormon“) freisetzt. Wir werden wortwörtlich chemisch verbundener.

4. Zuhören: Die unterschätzte Superkraft

Die meisten Menschen hören nicht zu – sie warten nur auf ihren Einsatz. Doch echtes Zuhören?

  • Aktiviert Spiegelneuronen: Wir fühlen mit, als wäre die Geschichte unsere eigene.
  • Trainiert Achtsamkeit: Statt im eigenen Kopf zu hängen, sind wir ganz im Moment.
  • Heilt: Ein einfaches „Ich verstehe“ kann für den Erzählenden wie Balsam sein.

5. Feedback: Warum wir Lob wie Schokolade brauchen

„Mir hat gefallen, wie du das Licht beschrieben hast“ – solches Feedback wirkt wie ein Dopamin-Kick. Aber warum?

  • Bestätigung: Unser Gehirn liebt es, gesehen zu werden.
  • Perspektiven: Was beim Schreiben unbewusst war, wird durch fremde Augen plötzlich klar.
  • Growth Mindset: Wertschätzendes Feedback macht Mut, weiterzumachen – und das ist der Nährboden für Kreativität.

Fazit: Schreiben ist die günstigste Therapie der Welt

Kein Kurs, keine App, kein Coach kann ersetzen, was passiert, wenn wir:

  1. Uns trauen, unfiltriert zu schreiben,
  2. Mut haben, es laut zu teilen,
  3. Und lernen, mit dem Herzen zuzuhören.

Am Ende geht es nicht um literarische Meisterwerke. Sondern darum, uns selbst und anderen näherzukommen – ein Wort nach dem anderen.

Also: Stift schnappen. Und einfach loslegen. Das Unbewusste weiß schon, wohin.

Indigenialität – Ökologische Lebenskunst

In unserer durchgetakteten, leistungsgetriebenen Welt scheint eine tiefe Leerstelle zu klaffen – die der Beziehung. Nicht nur zu anderen Menschen, sondern zu allem Lebendigen. Was uns fehlt, ist nicht mehr Wissen, nicht mehr Technik, nicht einmal mehr gute Absichten. Was uns fehlt, ist Gegenseitigkeit.

Unsere westlich geprägte Lebensweise basiert auf Trennung: Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, Nutzen und Aufwand. In dieser Denkweise ist der Mensch nicht Teil eines lebendigen Ganzen, sondern dessen selbsternannter Herrscher. Die Welt wird zur Ressource, zum Objekt der Nutzung, zur Bühne für menschliche Selbstverwirklichung. Wir fragen selten, was das Leben selbst braucht – sondern was wir ihm entreißen können.

Doch die Folgen dieser Entfremdung sind unübersehbar geworden. Nicht nur ökologisch, auch seelisch leben wir in einer Krise. Die kollektive Erschöpfung, die viele Menschen heute empfinden, ist auch eine Resonanz auf den Ausschluss des Fühlens aus unserem Weltzugang. Denn die Welt – das Leben – ist nicht ein mechanisches System aus Dingen. Sie ist ein Gewebe aus Beziehungen.

Die Wiederentdeckung der Empfindung

Die Fähigkeit, sich einzufühlen in andere Lebewesen, wurde in der Moderne lange als irrational, sentimental oder gar hinderlich abgetan. Dabei ist sie ein zentrales Organ unserer Menschlichkeit – und unserer ökologischen Intelligenz. Wir spüren, wenn etwas falsch läuft, lange bevor wir es messen können. Dieses Wissen, das aus dem Mitsein entsteht, wurde verdrängt. Es wurde kolonialisiert – nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Unsere Seelen wurden gezwungen, sich einem Weltbild zu unterwerfen, das Beziehungslosigkeit als Objektivität tarnt.

Doch in Wirklichkeit ist nichts neutral. Auch das „Beobachten“ ist ein Akt der Beziehung – oder ihrer Verweigerung. Die sogenannte Natur, von der wir sprechen, ist keine Außenwelt. Sie ist das lebendige Ganze, in dem wir immer schon enthalten sind. Wir atmen nicht in der Natur. Wir sind Natur, atmend.

Indigenialiät - Mensch ist Natur

Indigenialität – Lernen von lebendigen Kulturen

In vielen indigenen Kulturen existiert kein Begriff für „Natur“, weil die Trennung, die dieser Begriff impliziert, schlicht keinen Sinn macht. Dort ist das Leben durchdrungen von dem Wissen, dass alles miteinander verbunden ist – durch Austausch, durch Resonanz, durch wechselseitige Verantwortung. Diese Haltung ist keine Nostalgie, kein romantischer Rückfall in vormoderne Zustände. Sie ist ein radikaler Realismus, der die Lebendigkeit der Welt ernst nimmt.

Was wir brauchen, ist keine Rückkehr zur Vergangenheit. Wir brauchen eine Zukunft, die aus der Erinnerung an unsere Beziehungsfähigkeit geboren wird. Eine neue Lebenskunst, die Andreas Weber „Indigenialität“ nennt – eine geniale, dem Leben zugewandte Haltung, die sich an indigener Weisheit inspiriert, ohne sie zu vereinnahmen.

Indigenialität bedeutet: zu fühlen, bevor man handelt. Zu fragen: Was braucht das Leben in mir? Was braucht das Leben um mich? Und zu begreifen, dass es auf diese Fragen keine getrennten Antworten geben kann.

Der Kosmos als Mitbewohner

Wenn wir den Planeten nicht mehr als Hintergrund für menschliches Handeln betrachten, sondern als lebendigen Mitbewohner, entsteht ein anderer Ethos. Dann wird das „ökologische Problem“ nicht zu einem technischen Projekt, sondern zu einer Frage des Mitgefühls. Dann reicht es nicht mehr, CO₂ zu reduzieren. Dann wollen wir fühlen, wie es den Bäumen, den Vögeln, den Böden, den Meeren, den Mikroben geht – und handeln in diesem Wissen.

Dieses Handeln beginnt nicht auf globalen Klimakonferenzen. Es beginnt im Alltag: beim Essen, beim Blick auf das Tier im Stall, bei der Entscheidung, wie viel wir wirklich brauchen, und bei der Frage, ob unser inneres Tempo noch mit dem Atem des Lebendigen in Einklang ist.

Zurück in die Beziehung

In einer Zeit, in der wir alles über „die Natur“ zu wissen glauben, ist es vielleicht das Wichtigste, wieder zu lernen, wie man sie liebt. Nicht sentimental, sondern wirklich: mit wacher Wahrnehmung, mit Bereitschaft zur Verantwortung, mit der Demut, dass wir nicht über, sondern mit ihr leben.

Gegenseitigkeit ist keine Utopie. Sie ist ein Grundprinzip des Lebendigen. Wo sie gelebt wird, entsteht nicht nur ökologische Stabilität – es entsteht Sinn. Und vielleicht ist das das größte Geschenk, das eine neue Lebenskunst uns machen kann: den Sinn nicht in der Wirkung zu suchen, sondern in der Verbindung.

Reflexionsfragen für eine Lebenskunst in Verbundenheit

  • Wem oder was bin ich heute wirklich begegnet – mit offenem Herzen, nicht nur mit den Augen?
  • Was fließt mir täglich zu – ohne dass ich darum bitten muss? Und was fließt von mir zurück?
  • Wo nehme ich – ohne zu geben? Und wo entsteht ein leises Gleichgewicht?
  • Wann hat mein Inneres zuletzt aufgeatmet – und was könnte ich tun, damit es wieder geschieht?
  • Welche Stimme in mir wurde überhört – und was flüstert sie mir jetzt, wo ich still bin?
  • Will ich Teil des Spiels sein – oder bleibe ich Zuschauer am Rand des Lebendigen?

Literatur

  • Weber, A. (2023). Indigenialität: Leben als Beziehung. Berlin: Nicolai.
  • Kimmerer, R. W. (2021). Geflochtenes Süßgras: Die Weisheit der Pflanzen und die Lehren der indigenen Völker. München: Ludwig Verlag.
  • Abram, D. (2011). Im Bann der sinnlichen Welt: Die Sprache der Natur und das Abenteuer der Wahrnehmung. Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen.
  • Macy, J., & Johnstone, C. (2013). Hoffnung durch Handeln: Wie wir trotz globaler Krisen kraftvoll leben können. Bielefeld: J. Kamphausen.
  • Eisenstein, C. (2014). Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich. München: Arkana.