Warum wissenschaftliches Denken überlebenswichtig ist
Ob zur Rechtfertigung von Sklaverei oder der Beschuldigung als Hexe – fehlgeleitetes Denken hat Geschichte geschrieben. Wenn wir unsere Überzeugungen nicht kritisch hinterfragen, können wir uns alles einreden – im Guten wie im Schlechten. Ein tragisches Beispiel ist der Hexenwahn: Damals galt jede Handlung einer beschuldigten Frau als Beweis für Hexerei – ein klassisches Beispiel für eine unwiderlegbare Behauptung. Ohne die Prinzipien des wissenschaftlichen Denkens wurde Vernunft durch Angst ersetzt – mit tödlichen Folgen für unzählige Frauen.
Heute, im Zeitalter digitaler Desinformation, ist wissenschaftliches Denken wichtiger denn je. Falsche Nachrichten, manipulierte Bilder oder pseudowissenschaftliche Heilversprechen verbreiten sich rasend schnell. Wer kritisch denkt, fällt seltener auf sie herein.
„Am Anfang jeder Wissenschaft steht eine Haltung, die Neugier, Skepsis und Demut vereint.“
David Myers & Nathan DeWall
Die 3 Merkmale wissenschaftlich denkender Menschen
Vorab: Der Begriff „Wissenschaftlich Denkende“ ist nicht deckungsgleich mit „Wissenschaftler“. Beobachten Sie, wen Medien als „Experten“ vorstellen und urteilen Sie selbst.
1. Sie folgen den Beweisen – nicht dem Bauchgefühl
Wissenschaftlich Denkende zeigen intellektuelle Bescheidenheit. Sie ändern ihre Meinung, wenn neue, glaubwürdige Beweise auftauchen – und zweifeln, wenn die Beweislage schwach ist. Sie suchen nicht nach „Wahrheiten“, sondern nach der besten verfügbaren Erklärung. Wie Bob Garrett und Gerald Hough betonen:
„Wissenschaftler sprechen selten von Wahrheit oder Beweisen. Diese Worte suggerieren Endgültigkeit – ein Feind des Fortschritts.“
Adam Grant ergänzt: Flexibilität in Meinungen ist wichtig – nicht aber bei Werten. Eine Ärztin kann etwa offen dafür sein, welche Behandlung am besten wirkt, aber unbeirrbar dem Ziel verpflichtet bleiben, Menschen zu helfen.
2. Sie wissen, welchen Informationen man trauen kann
Nicht alle Informationen sind gleich viel wert. Wissenschaftlich Denkende bevorzugen:
- Studien gegenüber Anekdoten
- Experten gegenüber Influencern
- Experimente gegenüber bloßen Korrelationen
Die FLOATER-Regel der Biologin Melanie Trecek-King hilft, Informationen zu prüfen:
- Falsifizierbarkeit: Ist die Aussage überhaupt widerlegbar?
- Logik: Ist das Argument logisch und fehlerfrei?
- Objektivität: Wird die Aussage ohne Eigeninteressen bewertet?
- Alternative Erklärungen: Gibt es andere plausible Deutungen?
- Vorläufigkeit: Ist die Schlussfolgerung offen für neue Beweise?
- Evidenz: Gibt es zuverlässige und ausreichende Beweise?
- Replizierbarkeit: Wurde der Befund wiederholt bestätigt?
Zusätzlich nutzen wissenschaftlich Denkende sogenanntes laterales Lesen: Statt sich intensiv mit einer einzigen Quelle zu beschäftigen („vertikales Lesen“), prüfen sie Behauptungen quer durch verschiedene Quellen.

3. Sie erkennen eigene Denkfehler und arbeiten aktiv dagegen an
Wissenschaftlich Denkende wissen: Auch sie sind nicht vor Denkfehlern gefeit. Sie bemühen sich aber, diese zu erkennen und zu korrigieren. Unsere Gehirne sind evolutionär nicht dafür gemacht, komplexe wissenschaftliche Fragen zu bewerten, sondern um in einer gefährlichen Umwelt schnell zu reagieren. Deshalb neigen wir zu kognitiven Verzerrungen:
Beispiele häufiger Denkfehler:
- Bestätigungsfehler: Wir suchen nur Informationen, die unsere Meinung stützen.
- Überlegenheitsillusion: Wir überschätzen unser Wissen.
- Ad-hominem-Fehlschluss: Wir greifen den Menschen an, statt sein Argument.
- Scheinbare Autorität: „Es stimmt, weil Person XY es sagt.“
- Emotionale Appelle: Überzeugung durch Angst, Mitleid oder Wut statt Argumente.
- Korrelation = Kausalität: Nur weil Dinge zusammen auftreten, heißt das nicht, dass eines das andere verursacht.
- Ablenkungsmanöver: Themenwechsel statt Argumentation.
- Dammbruchargument: „Wenn wir das erlauben, passiert als Nächstes etwas Katastrophales.“
- Strohmann-Argument: Die gegnerische Position wird verzerrt, um sie leichter angreifen zu können.
Fazit: Wissenschaftliches Denken ist für alle relevant
Egal ob Sie Lehrer, Psychologe, Wähler oder Forscher sind – der Einsatz für evidenzbasiertes Denken stärkt nicht nur Ihre persönliche Urteilsfähigkeit, sondern auch die demokratische Gesellschaft insgesamt. Wissenschaftliches Denken schützt vor Manipulation, fördert Aufklärung und ermöglicht Fortschritt – ein Werkzeug, das wir heute dringender denn je brauchen.
Fragen zur Selbstreflexion
Umgang mit Beweisen
- Wie oft ändere ich meine Meinung, wenn mir neue, überzeugende Informationen präsentiert werden?
- Fühle ich mich unwohl dabei, eine Meinung zu vertreten, wenn ich unsicher über die Faktenlage bin?
- Erkenne ich an, wenn jemand anders bessere Argumente oder Beweise hat?
Kritisches Denken & Informationsbewertung
- Hinterfrage ich aktiv die Quellen, aus denen ich Informationen beziehe?
- Kenne ich den Unterschied zwischen anekdotischer Evidenz und wissenschaftlicher Evidenz?
- Habe ich mir schon einmal die Mühe gemacht, herauszufinden, wer eine Studie finanziert hat?
Bewusstsein für kognitive Verzerrungen
- In welchen Situationen neige ich dazu, nur nach Informationen zu suchen, die meine Meinung bestätigen?
- Habe ich mich schon einmal dabei ertappt, auf „Autoritäten“ zu hören, ohne deren Expertise zu prüfen?
- Erkenne ich, wann Emotionen mein Urteil beeinflussen?
Intellektuelle Bescheidenheit
- Wie gut kann ich mit dem Gefühl leben, etwas (noch) nicht zu wissen?
- Wie gehe ich mit Themen um, bei denen ich keine klare Meinung habe? Versuche ich, mehr zu lernen, oder suche ich eine schnelle Antwort?
- Welche Überzeugung halte ich gerade für „sicher“ – und wie würde ich reagieren, wenn diese falsifiziert würde?
Anwendung im Alltag
- Wende ich wissenschaftliches Denken auch in emotionalen oder persönlichen Entscheidungen an?
- Überprüfe ich regelmäßig meine Standpunkte – auch in Themenfeldern, die mir besonders wichtig sind?
- Wie gehe ich mit Personen um, die stark gegensätzliche Überzeugungen vertreten? Höre ich zu – oder gehe ich sofort in Abwehrhaltung?
Literaturempfehlungen
Gigerenzer, G. (2013). Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München: C. Bertelsmann.
Kahneman, D. (2012). Schnelles Denken, langsames Denken (R. Pyka, Übers.). München: Siedler.
Röhl, K.-H. (2022). Logik für Einsteiger: Von den Grundlagen zur philosophischen Argumentation. Berlin: Springer VS.
Sagan, C. (2021). Der Drache in meiner Garage: Oder die Kunst der Wissenschaft, Unsinn zu entlarven. Berlin: Springer.
Taschler, M., & Gollwitzer, M. (2022). Psychologie der Meinungsbildung: Warum wir glauben, was wir glauben. Berlin: Springer.
Trecek-King, M. (2023). Think Like a Scientist: How to Use Critical Thinking to Understand the World and Make Better Decisions. Selbstverlag.
Myers, D. G., & DeWall, C. N. (2020). Psychologie (4. Aufl., U. Hagner & S. Nestler, Hrsg.). Berlin: Springer.