Die Konstruktion von Wirklichkeit

Die Konstruktion von Wirklichkeit

Die Konstruktion von „Wirklichkeit“ ist ein erkenntnistheoretisches Thema, das sich mit der Natur der Realität und der Art und Weise beschäftigt, wie wir sie wahrnehmen, verstehen und interpretieren.

In den verschiedenen philosophischen Schulen und Strömungen gibt es unterschiedliche Ansätze zur Konstruktion von Wirklichkeit. Einige betonen die Existenz einer objektiven Realität, die unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert. Demgemäß gibt es eine externe Welt, die unabhängig von unserem Bewusstsein existiert und deren Eigenschaften und Gesetze wir durch wissenschaftliche Methoden erforschen können.

Andere Ansätze argumentieren, dass die Wirklichkeit eine Konstruktion des menschlichen Geistes ist. Sie betonen die Rolle der Wahrnehmung, der Sprache, der sozialen Interaktionen und der kulturellen Einflüsse bei der Konstruktion unserer Erfahrungen und unseres Verständnisses von Realität. Demnach ist unsere Wahrnehmung der Welt subjektiv und kontextabhängig, und es gibt keine absolute oder objektive Realität, die unabhängig von unserem Bewusstsein existiert.

Aus psychologischer Sicht beschäftigt sich die Konstruktion von Wirklichkeit damit, wie Menschen Informationen verarbeiten, interpretieren und ihnen eine Bedeutung zuschreiben, um ihre eigene subjektive Realität zu erschaffen. Psychologen untersuchen die kognitiven, emotionalen und sozialen Prozesse, die an der Konstruktion von Wirklichkeit beteiligt sind.

Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein
Forellenkleid und dreht sich stumm –
Und dreht sich stumm nach anderen Wirklichkeiten um!

André Heller: Die wahren Abenteuer sind im Kopf

Hier sind einige wichtige Konzepte und Ansätze aus der psychologischen Perspektive:

Wahrnehmung

Die Art und Weise, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen, beeinflusst unsere Konstruktion der Realität. Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess, bei dem Informationen aus der Umgebung durch unsere Sinne aufgenommen und interpretiert werden.

Experiment:

Im untenstehenden kurzen Video sehen Sie zwei Basketballmannschaften. Die eine ist weiß gekleidet, die andere schwarz. Zählen Sie mit, wie viele Ballwechsel die Mannschaft in Weiß macht.

Was Sie in dem Video gesehen haben, ist ein Beispiel für selektive Aufmerksamkeitsfokussierung. Sie bezieht sich auf unsere Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Informationen bestimmte Aspekte auszuwählen. Das ist wichtig, um relevante Informationen zu erkennen und ablenkende auszublenden. So können wir unsere Ressourcen effizient einsetzen und uns auf das Wesentliche konzentrieren.

Beeinflusst wird unsere Wahrnehmung durch verschiedene Faktoren:

Aufgabenrelevanz

Wenn eine bestimmte Information oder ein bestimmter Reiz für die aktuelle Aufgabe oder das Ziel von Bedeutung ist, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird.

Erwartungen und Interessen

Persönliche Interessen, Vorlieben oder Erwartungen können dazu führen, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte richten und andere vernachlässigen. Wir tendieren dazu, nach Informationen zu suchen, die unseren vorhandenen Überzeugungen oder Interessen entsprechen.

Emotionale Bedeutung

Emotionale Stimuli haben oft eine stärkere Anziehungskraft und können unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Positive emotionale, aber auch bedrohliche Reize, Angst, Wut, Ekel haben beispielsweise eine größere Wahrscheinlichkeit, unsere Aufmerksamkeit zu erfassen.

Salienz

Saliente Reize oder Stimuli, die sich von ihrer Umgebung abheben, werden tendenziell bevorzugt beachtet. Dies kann aufgrund ihrer Helligkeit, Lautstärke, Bewegung oder anderen auffälligen Merkmalen geschehen.

Wahrnehmung erfolgt nicht immer bewusst und willentlich, sondern automatisch und unbewusst aufgrund von gewohnten Denkmustern oder bestimmten kognitiven Mechanismen.

Kognitive Schemata

Kognitive Schemata sind mentale Strukturen oder Muster, die unser Wissen, unsere Erfahrungen und Erwartungen über die Welt repräsentieren. Sie dienen als Rahmen für die Interpretation neuer Informationen. Unsere Schemata beeinflussen, wie wir Ereignisse verstehen und welche Bedeutung wir ihnen zuschreiben.

Experiment: 

Denken Sie an ein bestimmtes Thema oder eine Kategorie (z. B. "Hund" oder "Glück" oder auch solche, die besonders kontroverse Gedanken hervorrufen wie "Russland" oder "CO₂"). Schreiben Sie dann alle Assoziationen, Informationen oder Merkmale auf, die Ihnen zu diesem Thema in den Sinn kommen. Laden Sie zwei, drei weitere Personen dazu ein, dieselbe Übung zu machen. Reflektieren Sie darüber, welche kognitiven Schemata Ihre Gedanken und Assoziationen beeinflusst haben könnten.

Kognitive Verzerrungen

Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil, so schließt er messerscharf,
nicht sein kann, was nicht sein darf.

"Die unmögliche Tatsache" von Christian Morgenstern

Menschen sind anfällig für verschiedene kognitive Verzerrungen, die ihre Wahrnehmung und Interpretation der Realität beeinflussen können. Beispiele für solche Verzerrungen sind Bestätigungsfehler (Tendenz, Informationen zu bevorzugen, die unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen), selektive Aufmerksamkeit (Tendenz, auf bestimmte Informationen zu achten und andere zu ignorieren) und kognitive Dissonanz (Unbehagen aufgrund von Inkonsistenzen zwischen unseren Überzeugungen und unserem Verhalten).

Ein berühmtes Beispiel für kognitive Verzerrungen ist die Geschichte, die sich in den 50er Jahren in Seattle zutrug. Damals entdeckten immer mehr Autofahrer kleine Kratzer auf der Windschutzscheibe. Je mehr Berichte darüber kursierten, desto mehr Menschen bemerkten selbst solche Kratzer und den wildesten Spekulationen, woher diese stammten, wurden Tür und Tor geöffnet.

Waren die Kratzer eine Folge der russischen Atombombentests? Präsident Eisenhower entsandte Sachverständige. Nach einer Weile stellte sich heraus, dass man bei intensiver Betrachtung aus einem bestimmten Blickwinkel auf jeder gebrauchten Windschutzscheibe solche Kratzer entdecken kann. Es gab damals überhaupt keine nennenswerte Zunahme an zerkratzten Windschutzscheiben. Das Einzige, was tatsächlich zugenommen hatte, war die Aufmerksamkeit, die die Leute der Beschaffenheit ihrer Windschutzscheiben zuteilwerden ließen.

Besonders ausgeprägt sind diese Wahrnehmungsverzerrungen, wenn die angeblichen Tatsachen aus glaubhaften Quellen vorgegeben werden, wie etwa zu Beginn der Corona-Krise, als die Fotolegende von Bergamo geschaffen wurde.

Ein weiteres Beispiel ist ein Experiment aus den 70er Jahren, zu dem Psychologen eingeladen wurden, die einen vermeintlichen Patienten behandeln sollten, der angeblich an der Wahnvorstellung litt, Psychologe zu sein. Es gab in der Versuchsanordnung aber keinen Patienten, sondern nur die beiden Psychologen, die sich gegenseitig für wahnsinnig hielten. Je eindringlicher jeder dem anderen klarzumachen versuchte, Psychologe zu sein, desto mehr bestätigte dies die verzerrte Wirklichkeit, wonach es sich bei diesem Versuch um ein Symptom der Wahnvorstellung des jeweils anderen handele.

Unsere Wahrnehmung kann also stark variieren und ist daher auch leicht manipulierbar.

Kognitive Dissonanz ist ein psychologisches Konzept, das den Zustand der Unbehaglichkeit beschreibt, der entsteht, wenn eine Person mit zwei oder mehreren widersprüchlichen Überzeugungen konfrontiert ist. Diese Unstimmigkeit erzeugt ein Spannungsgefühl, das uns motiviert, diese Dissonanz zu reduzieren oder bestenfalls zu beseitigen.

Ein klassisches Beispiel:

Angenommen, jemand ist der festen Überzeugung, dass regelmäßige körperliche Bewegung und ein gesunder Lebensstil wichtig für eine gute Gesundheit sind. Diese Person weiß jedoch auch, dass sie selbst einen eher inaktiven Lebensstil führt und sich selten sportlich betätigt. Diese Diskrepanz zwischen der Überzeugung von einem gesunden Lebensstil und dem eigenen Verhalten erzeugt kognitive Dissonanz.

Um die kognitive Dissonanz zu reduzieren, stehen nun mehrere Optionen zur Verfügung:

Veränderung des Verhaltens:

Die Person könnte beschließen, ihr Verhalten zu ändern und regelmäßig körperlich aktiv zu werden. Durch die Anpassung des Verhaltens an die Überzeugungen würde die Diskrepanz reduziert werden.

Umdeutung der Überzeugungen:

Die Person könnte versuchen, ihre Überzeugungen neu zu interpretieren oder rationalisieren. Zum Beispiel könnte sie denken, dass andere Aspekte ihres Lebensstils, wie eine gesunde Ernährung oder der Verzicht auf Rauchen, ausreichend sind, um eine gute Gesundheit zu gewährleisten.

Reduktion der Bedeutung:

Die Person könnte die Bedeutung der Diskrepanz herunterspielen und sich sagen, dass gelegentliche Inaktivität keinen großen Einfluss auf die Gesundheit hat oder dass sie andere positive Eigenschaften hat, die die Inaktivität ausgleichen.

Ambiguitätstoleranz:

Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit zu akzeptieren oder Zweifel auszuhalten. Wer Zweifel schwer ertragen kann, trifft eher vorschnelle (Fehl-)Entscheidungen und ist schneller geneigt, einer Führerfigur zu folgen oder gar nichts mehr zu glauben. Sie ist eine der Kernkompetenzen des Dialogs.

Experiment:

Denken Sie an eine Situation, in der Sie eine feste Überzeugung hatten. Fragen Sie sich dann, ob Sie nach Beweisen oder Informationen gesucht haben, die Ihre Überzeugung bestätigen, anstatt in ausgewogenem Maß auch konträre Beweise zu berücksichtigen um so zu einer möglichst objektiven Einschätzung zu kommen. Überlegen Sie, wie Sie in Zukunft mehr Aufmerksamkeit auf das Vorhandensein von kognitiven Verzerrungen lenken könnten.

Soziale Konstruktion von Wirklichkeit

Die soziale Interaktion und Kommunikation spielen eine wichtige Rolle bei der Konstruktion von Wirklichkeit. Durch den Austausch von Informationen, Sprache und kulturellen Normen innerhalb einer Gemeinschaft werden gemeinsame Bedeutungen und Konzepte entwickelt. Die soziale Konstruktion von Wirklichkeit besagt, dass unsere Realität durch die Interaktion mit anderen Menschen und der Gesellschaft geformt wird.

Experiment: 

Nehmen Sie an einer Gruppendiskussion teil oder beobachten Sie eine Gruppendiskussion zu einem kontroversen Thema. Achten Sie darauf, wie verschiedene Standpunkte und Meinungen ausgetauscht werden und wie diese den gemeinsamen Konsens und die Konstruktion von Wirklichkeit innerhalb der Gruppe beeinflussen können. 

Nehmen Sie an einem Dialog teil oder organisieren Sie einen solchen in Ihrer Gegend. Beobachten Sie, wie eine ganz andere Qualität des Denkens (des Konstruierens von Wirklichkeit) mit dieser Methode entsteht.

Persönliche Erfahrungen und Geschichte

Unsere individuellen Lebenserfahrungen, traumatische Ereignisse, Kultur, Erziehung und andere persönliche Faktoren beeinflussen ebenfalls die Art und Weise, wie wir die Welt verstehen und unsere Realität konstruieren. Verschiedene Menschen können daher unterschiedliche Versionen der Realität haben, basierend auf ihren einzigartigen Lebensgeschichten und Perspektiven (siehe Projekt „Zeitzeugen berichten“).

Experiment: 

Nehmen Sie sich Zeit, um Ihre eigene Lebensgeschichte zu reflektieren. Schreiben Sie die wichtigsten Erfahrungen, Ereignisse und Beziehungen auf, die Ihre Sichtweise auf die Welt geprägt haben. Überlegen Sie, wie diese persönlichen Faktoren dazu beigetragen haben könnten, Ihre individuelle Konstruktion von Wirklichkeit zu formen.

Diese psychologischen Konzepte verdeutlichen, dass die Wirklichkeit nicht einfach objektiv existiert, sondern dass sie durch die individuelle Wahrnehmung, kognitive Prozesse, soziale Einflüsse und persönliche Erfahrungen konstruiert wird.

Während unsere Aufmerksamkeit (etwa auf den Ballwechsel der Basketballmannschaft in Weiß) gelenkt wird, verlieren wir gelegentlich den Blick fürs Ganze und übersehen das Offensichtliche. Was aber kann man tun gegen diese Einengung des Blickfelds?

Erweitern Sie Ihre Perspektive, stellen Sie Fragen, recherchieren Sie, zweifeln Sie, treten Sie in den Dialog mit möglichst unterschiedlichen Menschen!

Die obigen Übungen können dabei helfen, die Konstruktion von Wirklichkeit besser zu verstehen und im eigenen Leben anzuwenden. Es handelt sich dabei um kontinuierliche Prozesse, bei denen man durch bewusstes Beobachten und Reflektieren eine größere Sensibilität für deine eigene Konstruktion von Wirklichkeit entwickeln kann. Und damit bessere Entscheidungen treffen kann.

Die nächsten Termine finden Sie hier.


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