Lebe ich schon mein wahres Ich?

Diese Frage hat mich kürzlich erreicht als Wunschthema für einen Dialog – und sie hat mich selbst zum Nachdenken gebracht. Wie oft im Leben stehen wir an Weggabelungen, in Beziehungen oder in Momenten der Stille und spüren: Irgendetwas passt nicht (mehr). Doch was genau ist dieses „wahre Ich“ – und wo finden wir es?

Wahres Ich - im Spiegel

Was meinen wir, wenn wir vom „wahren Ich“ sprechen?

Der Begriff klingt einfach – fast ein bisschen romantisch. Doch psychologisch betrachtet ist unser Ich kein statisches Objekt, das wir irgendwann in einer Schatztruhe unseres Inneren entdecken. Vielmehr ist es ein lebendiger Prozess: Es entwickelt sich, verändert sich, wird hinterfragt – und manchmal auch verdrängt.

Carl Rogers unterschied zwischen dem „Real-Selbst“ (wie wir wirklich sind) und dem „Ideal-Selbst“ (wie wir glauben, sein zu müssen). Je größer die Lücke zwischen diesen beiden Polen, desto unwohler fühlen wir uns oft.

Die merkwürdigste und wunderbarste Entdeckung, die ein Mensch machen kann, ist die, dass er er selbst sein kann.

Carl R. Rogers

Woran merke ich, dass ich (nicht) mein wahres Ich lebe?

  • Innere Unruhe – obwohl äußerlich alles „passt“
  • Das Gefühl, eine Rolle zu spielen
  • Wenig Zugang zu eigenen Bedürfnissen oder Gefühlen
  • Das Gefühl, sich ständig anpassen zu müssen

Das Gegenteil fühlt sich oft unspektakulär, aber stimmig an: Wenn wir „bei uns“ sind, handeln wir aus einer inneren Klarheit heraus.

Warum fällt es schwer, authentisch zu leben?

Unsere Identität formt sich in einem sozialen Geflecht. Wir lernen früh, was von uns erwartet wird. Das wahre Ich wird dadurch nicht zerstört, aber manchmal überlagert – von Rollen, Erwartungen, Ängsten.

In der Praxis begegnet mir das oft bei Menschen, die lange „funktioniert“ haben – beruflich, familiär, gesellschaftlich – und irgendwann merken: Ich habe mich selbst auf dem Weg verloren.

Reflexionsfragen

  • In welchen Momenten fühle ich mich lebendig und echt?
  • Welche Teile von mir halte ich (noch) zurück – und warum?
  • Wo handle ich aus Angst, nicht zu genügen – statt aus innerer Überzeugung?
  • Was würde ich tun, wenn ich für einen Tag völlig frei wäre von Erwartungen?

Übung: 7 Tage Ich-Beobachtung

Ziel:

Sich selbst im Alltag bewusster erleben – ohne Druck, mit Neugier.

Anleitung:

  1. Wähle für 7 Tage jeweils einen Moment am Tag (z. B. abends oder in einer Pause).
  2. Beantworte folgende Fragen schriftlich oder gedanklich:
  • Gab es heute einen Moment, in dem ich ganz bei mir war?
  • Gab es heute einen Moment, in dem ich mich angepasst habe, obwohl ich innerlich anders wollte?
  • Was habe ich dabei über mich gelernt – ohne zu werten?

Tipp: Halte deine Eindrücke wie in einem kleinen Tagebuch fest. Manchmal zeigt sich das Eigene nicht laut, sondern leise – im Unbehagen, in der Freude oder im Aufatmen.

Auf dem Weg zu mir selbst

Vielleicht geht es gar nicht darum, „das wahre Ich“ zu finden wie ein Ziel – sondern darum, sich selbst jeden Tag ein Stück näherzukommen.

Durch kleine Akte von Ehrlichkeit. Durch innere Klarheit. Durch das sanfte Loslassen von Rollen, die uns nicht mehr dienen.

Der Weg zum authentischen Leben beginnt nicht mit einer großen Entscheidung – sondern mit einem kleinen Schritt: dem Mut, sich selbst zuzuhören.

Sie möchten sich mit anderen ins Thema vertiefen? Termine für die nächsten Dialoge mit Respekt (Donnerstalk) finden Sie hier.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Hermann Hesse