Der Klang der Stille

Der Friedensnobelpreis 2015 ging an das tunesische Quartett für den nationalen Dialog und seine Bemühungen nach dem Sturz des tunesischen Machthabers, das Land in Richtung Demokratie zu führen. Der Preis war nicht nur als Anerkennung der Verdienste um den Frieden gedacht, in einer Zeit, in der das Land an allen Fronten in Gefahr war. Er sollte auch eine Ehrung für alle sein, die auf der ganzen Welt an einer Kultur des Dialogs arbeiten und ein Ansporn, den Dialog für Friedensbemühungen in aller Welt zu nutzen.

Doch was hat der Dialog mit dem Sound of Silence, dem Klang der Stille zu tun?

Sound of Silence wurde 1964 von Paul Simon und Art Garfunkel zum ersten Mal veröffentlicht. Der Rolling Stone führt ihn in der Liste der 500 besten Songs aller Zeiten. Der epische Gänsehauteffekt der Coverversion des Jahres 2015 von der Metalband Disturbed mit der außergewöhnlichen Stimme von David Draiman, die ob der Effekthascherei ebenso gefeiert wie kritisiert wurde, sorgte für internationale Aufmerksamkeit und millionenfache Verkäufe.

Schon die ersten Zeilen des Songs, „Hello darkness, my old friend. I’ve come to talk with you again“, illustrieren Martin Bubers Idee vom dialogischen Prinzip. Der Sänger begrüßt die Dunkelheit als alten Freund, bereit, eine tiefgehende Unterhaltung zu führen. Es ist keine einfache Interaktion, sondern ein Versuch, eine echte Verbindung zu der „Dunkelheit“, die als metaphorische Person angesprochen wird, aufzubauen.

Dabei geht es nicht wie sonst so häufig bei Diskussionen darum, zu gewinnen oder Punkte für sich zu sammeln. Der Dialog will stattdessen über die Grenzen der Andersartigkeit, der für uns im Dunkeln liegenden Bereiche, hinausgehen und sich zum Gewinn aller auf eine Reise heraus aus dem Gefängnis des Gedachten hin zur Freiheit des gemeinsamen Denkens machen.

Der Songtext präsentiert eine kritische Auseinandersetzung mit der modernen Kommunikation: „People talking without speaking. People hearing without listening.“ Hier wird der Mangel an echtem Dialog in unserer Gesellschaft sichtbar: all die oberflächlichen Gespräche, die stattfinden, wo Menschen sprechen, aber keine Bedeutung teilen, und das Gesagte zwar hören, aber nicht wirklich zuhören. Von Herzen sprechen und tiefes Zuhören sind zwei der Kernkompetenzen eines gelingenden Dialogs.

Der Song „Sound of Silence“ wirft Fragen auf, warum Menschen in der Stille verharren und ihre Stimmen nicht erheben. Diese Stille begegnet uns auch im Dialog: Es ist die Stille zwischen den gesprochenen Worten, die eigentliche Qualität des Dialogs, wenn man sich auf den Moment des Spürens einlässt. Doch in diesem Augenblick des Innehaltens, des sich Öffnens, in dem man um Verständnis ringt, steigt der Impuls zum echten Gespräch auf, der alles verändert, der von der wissenden Haltung zu einer lernenden führt. Sich selbst in den Momenten der Stille, den eigenen Vorurteilen und Ängsten zu stellen, ist integraler Bestandteil des Dialogs.

Im Songtext ist niemand bereit, den Klang des Schweigens und nicht Zuhörens zu unterbrechen. Die Warnung: „Ihr Dummköpfe, diese Stille wuchert wie ein Krebsgeschwür“, fällt wie stille Regentropfen. Die Menschen verneigen sich weiter vor ihrem Gott des Konsums und der Technik, den sie selbst geschaffen haben, und die Worte ihrer Propheten, die Werbung und die belanglosen Parolen, sind an die U-Bahn-Wände geschrieben und in den Klang der Stille geflüstert.

Es scheint paradox, dass ein Lied, das sich offensichtlich gegen eine Konsumgesellschaft, die so abhängig von Technologien und Medien ist, ausspricht, letztlich einer der meist geklickt- und gecoverten Songs überhaupt ist. Trotz der viralen Omnipräsenz verstehen viele die Botschaft nicht, da das Lied häufig auf die ersten Textzeilen reduziert wird. Doch selbst diese paar Zeilen reichen aus, um eine starke emotionale Reaktion auszulösen. So könnte man „Sound of Silence“ auch als lebendiges Mahnmal der Populärkultur verstehen.

Sowohl „Sound of Silence“ als auch die philosophischen Ansichten von Martin Buber und David Bohm betonen die transformative Kraft des Dialogs für den Frieden. Indem wir uns in den Dialog begeben, öffnen wir uns für den Austausch von Ideen und Perspektiven. Doch der Dialog ist auch ein radikales, subversives Unternehmen. Er löst alte Sicherheiten auf und schafft nicht sofort neue. So gilt es Verständnis, Empathie und Respekt füreinander zu entwickeln. Wir werden ermutigt, unsere Unterschiede zu überbrücken und nach gemeinsamen Werten zu suchen. Durch den Dialog können wir den Klang der Stille in eine Melodie des Friedens verwandeln, auf dem Weg zu Harmonie in einer zerrissenen Welt.


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Er ist am 24.6.2023 bei Manova (Rubikon) für die Friedensnoten erschienen und am 14.7.2023 bei Radio München.