Handarbeit – Tradition, Inspiration oder Revolution?

Spinnen, Weben und Sticken gehörten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu den häuslichen Aufgaben und waren keine ausschließlich weiblichen Tätigkeiten bis zum Verfall des Kunsthandwerks durch die Industrialisierung und Massenproduktion. Im 19. Jahrhundert erfuhr die Handarbeit einen Aufschwung. Das Bild einer handarbeitenden Frau wurde zur Metapher für all die Tugenden einer idealen Ehe- und Hausfrau wie stetiger Fleiß und Fügsamkeit. Handarbeit galt lange Zeit als konservativ und keineswegs als Aktivismus.

Das hat sich bis heute wieder gewandelt. Unter dem Begriff DIY (Do-it-yourself) wird traditionelle Handarbeit zum Trend. Selbermachen steht für soziale Verantwortlichkeit und ökologische Nachhaltigkeit, gepaart mit Kreativität und Individualität. Unternehmen wie Etsy oder Pinterest basieren auf dieser Marketingstrategie. Im Sinne von „früher war alles besser“ trägt DIY durchaus immer noch konservative Züge. Etwa, wenn ausgediente Kleidung kunstvoll geflickt und so durch Upcycling rohstoffsparend zu peppiger Mode wird.

Warum macht man heute wieder Dinge selber und welche Bedeutung schreibt man diesem Tun zu? Wie es scheint, sind vor allem kommunikative und soziale Funktionen im Vordergrund: sich mit Gleichgesinnten zu treffen und Wissen und Erfahrungen austauschen. Aber auch therapeutische Effekte, wie Selbstfürsorge, sind zu finden. Kreatives Selbermachen dient als Gegenpol zu inhaltlich und zeitlich fremdbestimmter Erwerbsarbeit.

Parallel zur DIY-Welle werden Handarbeiten auch von Aktivisten genutzt, zum Beispiel in Form von Guerilla Knitting oder Yarn Bombing. Parkbänke, Bäume, Skulpturen werden eingestrickt und dienen als schrilles und doch friedliches Zeichen von Unmut gegen Politik und Kapitalismus. Und doch – vielleicht sind gerade die, die traditionelle Handarbeit betreiben, die Revolutionäre, einfach durch ihr Tun an sich.

Ihr unzeitgemäßes, unwirtschaftliches, trotziges Dennoch-Produzieren hat durchaus etwas Subversives, es unterläuft, wenigstens ein Stück weit, die dominierenden kapitalistischen Strukturen und – indem es ohne Öffentlichkeit auskommt – auch jene der Aufmerksamkeitsgesellschaft.

Nikola Langreiter

Haben Sie sich jemals gefragt, wie ein einfacher Stoffflicken in der Lage ist, mehr als nur Löcher zu reparieren?

Flicken ist unumgänglich, wenn man gerne Kleidung trägt, die fast so alt ist, wie man selbst. In Japan sieht man das jedoch nicht als notwendiges Übel, sondern als Kunstform.

Vielleicht haben Sie schon einmal von Kintsugi (金継ぎ) gehört, einer traditionellen japanischen Kunst, bei der zerbrochene Keramik mit Lack gemischt mit pulverisiertem Gold, Silber oder Platin repariert wird. Der Begriff „Kintsugi“ kann als „goldene Verbindung“ oder „goldene Reparatur“ übersetzt werden. Diese Technik verbirgt nicht die Risse und Unvollkommenheiten des Porzellans, sondern betont und feiert sie und verwandelt das zerbrochene Stück in ein einzigartiges Kunstwerk.

Kintsugi ist nicht nur eine Kunstform, sondern trägt auch eine symbolische Botschaft, die Fehler und den Lauf der Zeit zu akzeptieren. Es hat nicht nur in Japan, sondern auch weltweit an Popularität gewonnen und dient als Metapher für Widerstandsfähigkeit und die Entdeckung von Schönheit in Unvollkommenheiten, sowohl in Objekten als auch im Leben selbst.

Boro ist das textile Äquivalent von Kintsugi. Hier, im Gegensatz zum unsichtbaren Ausbessern, wird kunstvolles Flicken zum Hingucker. Indem man sich die Zeit nimmt, etwas Einzigartiges zu schaffen, verbindet man sich mit einem Kleidungsstück und seinen Fehlern und verleiht mit zauberhaften Nähten dem fertigen Stück noch mehr Charme.

Beim Slow Stiching geht es nicht nur darum, Kleidung oder Textilien zu erhalten, und so einen Gegenpol zur Fast Fashion zu bieten, sondern auch, eine Verbindung zu Gedanken und Emotionen herzustellen. Durch das bewusste Setzen von Stichen, die Wahl von Mustern und Farben und das Spielen mit verschiedenen Materialien kann man einen Raum der Selbstreflexion und Entspannung entdecken. Nadel und den Faden werden zu Werkzeugen der Selbstfindung und Entspannung, der kreativen Erfüllung, der Entschleunigung und inneren Ruhe.

Das Nähen ist eine Möglichkeit, unsere Existenz auf Stoff zu markieren: unseren Platz in der Welt zu gestalten, unsere Identität auszudrücken, etwas von uns selbst mit anderen zu teilen und den unvergänglichen Beweis unserer Anwesenheit in Stichen zu hinterlassen, die fest von unserer Berührung gehalten werden.

Clare Hunter, Gründerin von Sewing Matters

Damit liegen auch die gesundheitlichen Vorteile auf der Hand: Stressbewältigung, das Verarbeiten von traumatischen Erfahrungen durch Konzentration und aufbauende Gedankenmuster, Selbstreflexion und Achtsamkeit, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, das Pflegen von Gemeinschaft und Beziehungen, verbale und nonverbale Kommunikation (die Sticken insbesondere für interkulturelle Gruppen wertvoll macht).

Für mich verkörpert Stickerei das Sprichwort "Die Tage sind lang und die Jahre sind kurz". Es ist ein physischer Prozess, der die Kräfte der Natur und die Spuren, die Menschen auf dieser Welt hinterlassen, nachahmt, in dem Sinne, dass es eine Weile dauern wird, um Ergebnisse zu sehen. In einer Zeit, in der wir als Gesellschaft an sofortige Befriedigung gewöhnt sind, finde ich Freude darin, wie Nadel und Faden die Oberfläche des Stoffs langsam durchbrechen und verändern, allmählich eine neue Erzählung aufbauen oder als Erinnerung an eine alte dienen.

Hannah Claire Sommerville

Slow Stitching ist für jedermann geeignet, der die heilende, entspannende und wohltuende Wirkung von kreativer Selbstentfaltung erfahren möchte. Aber Sticken kann noch viel weiter gehen:

Hier beim Craftivist Collective konzentrieren wir uns auf Kampagnen und Aktivismus, bei denen wir die Ursachen von Armut und Leid infrage stellen und herausfordern und langfristige Lösungen für diese Probleme suchen. Die Lösungen könnten eine Gesetzesänderung, eine Verhaltensänderung oder eine Änderung der Einstellung sein. Unsere Helden sind Aktivisten wie Ghandi, Martin Luther King und die Suffragetten, die alle unsere Welt langfristig brillant verändert haben. Beim Craftivist Collective geht es also nicht um Fundraising, Spenden oder einfach nur Sensibilisierung. Wir verwenden Handwerk (meist Handstickereien und Papierhandwerk) als mächtiges Werkzeug, um langsamen, ruhigen, nachdenklichen und mitfühlenden Aktivismus als Katalysator für langfristige positive Veränderungen in unserer Welt und in uns selbst zu schaffen. Wir glauben, dass Handwerk, wenn es klug gemacht wird, ein mächtiges Instrument der Änderung sein kann, um die Werkzeugkiste des Aktivismus zu erhöhen.

Sarah Corbett, Gründerin von Craftist Collective

Was mache ich nun damit?

  • Zappeln Sie am Ende dieses Artikels schon voll Vorfreude auf ein neues Handarbeitsprojekt, das so viel mehr als ein nettes Hobby sein kann?
  • Haben Sie in handwerklichen Techniken nicht viel Erfahrung, oder schätzen Sie kreativen Austausch (von Ideen, Garn- und Stoffresten, …) in einer Gruppe?
  • Wünschen Sie sich eine Form von Aktivismus, bei der man nicht ausbrennt, sondern Selbstfürsorge pflegt, während man sein Anliegen kundtut?

Auf dem Telegramkanal „Sei kreaktiv!“ können Sie sich einerseits inspirieren lassen und andererseits Ihre Ideen vorstellen und andere damit anstecken. Er bietet auch die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und Treffen zu vereinbaren.

Oder Sie schreiben mir einfach: office@praxis-am-see.at

Gerne helfe ich bei der Gruppengründung von der Ideenfindung über Handwerkstechniken, Materialbeschaffung bis zu kunsttherapeutischen Elementen.

Weitere Literatur:

Sabine Planka: Urban Knitting, Yarn Bombing, Guerilla Knitting, in: Aesthetics of Resistance, Pictorial Glossary, The Nomos of Images, ISSN: 2366-9926, 28.10.2015, URL: http://nomoi.hypotheses.org/150. (15.11.23)

Matthias Lohre: „Ein Pulli für den Panzer“, in TAZ, 13.02.2013, online unter: URL: http://www.taz.de/Demonstration-fuer-Frieden-in-Dresden/!5073400/ (15.11.23)